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An ihren Schweinen verdienen Bauern kaum noch Geld.

© dpa

Höhere Kosten für Lebensmittel: Die Agrarwende ist überfällig, muss aber gerecht bleiben

Mitten in die Inflationssorgen treibt die Ampel-Regierung Energie- und Agrarwende voran. Den Preis dürfen nicht nur Geringverdiener bezahlen. Ein Kommentar.

Den Systemfehler kann Cem Özdemir mit Zahlen belegen. Von jedem Euro, der im Supermarkt für ein Stück Schwein bezahlt wird, landen gerade einmal 21 Cent bei den Bauern, die die Schweine aufgezogen, gemästet und versorgt haben. Viel zu wenig, findet der neue Landwirtschaftsminister der Grünen, zumal für Fleisch bislang die reduzierte Mehrwertsteuer von nur sieben Prozent gilt. Im Jahr 1970 erhielten die Hersteller im Schnitt noch 44 Cent von jedem verkauften Schweine–Euro.

Es gibt viele solcher Rechnungen, die zeigen, dass sich der Wert unseres Essens verändert hat. Für 250 Gramm Butter musste man im Jahr 1906 noch 38 Minuten arbeiten, heute sind es vier. In der Summe gaben Haushalte in Deutschland 1960 für Lebensmittel 38 Prozent ihres Einkommens aus, heute nur noch zwölf.

Das liegt zum einen an den besseren Löhnen. Gleichzeitig werden die niedrigen Lebensmittelpreise jetzt woanders bezahlt: Pestizide und Kunstdünger steigern den Ertrag, Massentierhaltung senkt die Kosten, stark subventionierte Betriebe können bei minimalen Gewinnmargen nur noch mit riesigen Anbauflächen vernünftig wirtschaften. Die billigen Lebensmittel gehen auf Kosten der Umwelt, des Tierwohls und der Landwirte. In den vergangenen 70 Jahren haben in Deutschland mehr als 1,7 Millionen landwirtschaftliche Betriebe aufgegeben.

Es war also überfällig, dass Özdemir gemeinsam mit Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) auf dem Agrarkongress am Dienstag eine „Neuausrichtung der Agrarpolitik“ angekündigt hat. Landwirtschaft, Natur, Umwelt und Klimaschutz sollen künftig miteinander versöhnt werden. Weniger Pestizide, kleinere Anbauflächen, bessere Rahmenbedingungen für Bauern und für die gehaltenen Tiere, versprechen die beiden Grünen-Minister. Er wolle eine neue Wertschätzung für Lebensmittel und gesunde Nahrungsmittel für alle, sagte Özdemir.

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Doch das Richtige müssen Özdemir und seine Ampel-Kollegen auch richtig umsetzen. Das gilt für die Agrarwende wie für die Energiewende, die zum Kernvorhaben der neuen Regierung ausgerufen wurde. Beide bringen enorme Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger mit sich. Dabei schauen die schon jetzt besorgt in den Geldbeutel.

Klimaschutz sollte nicht gegen soziale Gerechtigkeit ausgespielt werden

Die Energiekosten explodieren in diesem Winter, Preissteigerungen von 60 Prozent sind keine Seltenheit. Gleichzeitig steigen vielerorts die Mieten weiter, jede Fahrt zur Tankstelle schmerzt, der ÖPNV wird immer teurer, die Inflation ist auf Rekordniveau. Und jetzt auch noch teure Lebensmittel? Auf die Frage, wie sich Geringverdiener fair gehandelte Lebensmittel leisten können, hat der Landwirtschaftsminister bislang keine Antwort.

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Es wäre jetzt falsch, Klima-, Natur- und Tierschutz gegen soziale Gerechtigkeit auszuspielen. Doch die Kosten von Energie- und Agrarwende dürfen nicht überproportional auf Einkommensschwache abgewälzt werden. Gerade in der Sozialpolitik bleibt die Ampel bislang vage. Im Koalitionsvertrag hat man sich auf ein neues Bürgergeld verständigt, das Hartz IV ablösen soll. Ob die Bezüge dadurch steigen, ist völlig unklar. Zuletzt erhöhten sich die Beiträge für Hartz-IV-Bezieher um hohnhafte drei Euro pro Monat. Fünf Euro sind für Erwachsene pro Tag für Lebensmittel vorgesehen, für Kinder nur drei. Das macht krank.

Umweltminister Steffi Lemke und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir wollen eine Neuausrichtung der Agrarpolitik.
Umweltminister Steffi Lemke und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir wollen eine Neuausrichtung der Agrarpolitik.

© John Mac Dougall/dpa

Den Unternehmen dagegen will die Regierung hunderte Milliarden Euro geben, damit sie auf klimaneutrale Produktionen umstellen. Die Bürger wollen sie bei der Transformation weniger unterstützen. Einen Heizkostenzuschlag von 130 Euro soll es für Geringstverdiener geben, die EEG-Umlage 2023 fallen, der Mindestlohn von jetzt 10,45 Euro auf 12 Euro erhöht werden. Gute Ansätze, doch angesichts der enormen Belastungen nur ein unzureichender Flickenteppich.

Als „oberster Anwalt der Bäuerinnen und Bauer, aber auch der Tierschützer“ hat sich Cem Özdemir am Tag seiner Vereidigung bezeichnet. Er und die gesamte Regierung sollten sich auch als oberste Anwälte ihrer Bürger verstehen und deren Not erkennen. Die Zahlen belegen sie.

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