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Soldaten beobachten, wie Evakuierte aus der ukrainischen Region Charkiw an der russischen Grenze aus einem Bus aussteigen (Archivbild).

© imago/ITAR-TASS/Russian Defence Ministry

„Wir fühlten uns wie Geiseln“: Human Rights Watch wirft Russland Zwangsumsiedlung von Ukrainern vor

Die Menschenrechtsorganisation berichtet von Zwangsumsiedlungen und Untersuchungen von Ukrainern. Human Rights Watch fordert den sofortigen Stopp der Maßnahmen.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) beschuldigt Russland und prorussische Separatisten der zwangsweisen Umsiedlung von Ukrainern nach Russland sowie in die selbst ernannte Donezker Volksrepublik. Das geht aus einem 71-seitigen Bericht mit dem Titel „Wir hatten keine Wahl: ,Filtration‘ und das Kriegsverbrechen der gewaltsamen Überführung ukrainischer Zivilisten nach Russland“ hervor, den die Organisation am Donnerstag vorgestellt hat.

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Für ihren Bericht habe die Menschenrechtsorganisation Interviews mit 54 Menschen geführt. Darunter Personen, die nach Russland gegangen sind, die Familienmitglieder oder Freunde hatten, die nach Russland überstellt wurden, oder die Ukrainer unterstützt haben. Und die versuchen, das Land wieder zu verlassen.

Die meisten dieser Menschen kämen aus dem ehemals stark umkämpften Mariupol – einige aber auch aus der Region um die Großstadt Charkiw im Nordosten der Ukraine. Genaue Zahlen, wie viele Zivilisten aus der Ukraine nach Russland gebracht wurden, gibt es nicht.

Human Rights Watch zitiert eine russische Agenturmeldung von Ende Juli, nach der mehr als 2,8 Millionen Ukrainer nach Russland eingereist sind – darunter 448.000 Kinder. Allerdings hätten einige Personen auch angegeben, freiwillig nach Russland gegangen zu sein, etwa Männer im waffenfähigen Alter, denen das ukrainische Kriegsrecht eine Ausreise verbietet.

Die ukrainische Regierung beschuldigt Russland seit Beginn des Angriffskrieges der Verschleppung von mehr als tausend Kindern. „Russland entführt weiterhin Kinder aus ukrainischem Staatsgebiet und arrangiert ihre rechtswidrige Adoption durch russische Staatsbürger“, erklärte das ukrainische Außenministerium Ende August.

„Keine andere Wahl, als nach Russland zu gehen“

Laut HRW-Bericht hätten die russischen und prorussischen Truppen Transporte aus Mariupol organisiert und den Menschen erklärt, dass diese keine andere Wahl hätten, als auf russisches oder von Russland besetztes Gebiet gebracht zu werden. Eine Frau aus der südostukrainischen Hafenstadt sagte der Menschenrechtsorganisation: „Natürlich hätten wir die Gelegenheit genutzt, in die Ukraine zu gehen, wenn wir gekonnt hätten. Aber wir hatten keine Wahl, keine Möglichkeit, dorthin zu gehen.“

Befragte, die auf dem Weg in ukrainisch kontrollierte Gebiete waren, hätten gegenüber HRW erklärt, dass sie an russisch oder prorussischen Kontrollpunkten angewiesen wurden, sich selbstständig in diese Gebiete zu begeben. Einem 70-jährigen Mann aus der Nähe von Charkiw sei von russischen Soldaten gedroht worden, die Ukrainer würden ihn „hinrichten“, wenn er nicht nach Russland fliehe.

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Teilweise würden Evakuierungsbusse nach Russland fahren, ohne dass die Fahrgäste vorher Bescheid wüssten. „Ukrainischen Zivilisten sollte keine andere Wahl gelassen werden, als nach Russland zu gehen“, sagte Belkis Wille, leitender Krisen- und Konfliktforscher bei Human Rights Watch und Mitverfasser des Berichts. Diese Praxis „sollte sofort eingestellt werden“.

„Strafende Sicherheitsüberprüfungen“ in Filtrationslagern

Neben den zwangsweisen Umsiedlungen seien Tausende ukrainische Bürger einer sogenannten Filtration unterzogen worden, heißt es in dem HRW-Bericht. Dabei handele es sich um eine Form der „strafenden und missbräuchlichen Sicherheitsüberprüfung“. In der Regel seien dabei biometrische Daten erhoben worden, aber auch persönliche Gegenstände und Telefone durchsucht und Befragungen zu politischen Ansichten durchgeführt worden.

In Oleniwka soll sich ein Standort des russischen Filtrationssystems befunden haben (Archivbild).
In Oleniwka soll sich ein Standort des russischen Filtrationssystems befunden haben (Archivbild).

© REUTERS/Alexander Ermochenko

Der HRW-Bericht zitiert einen Mann aus Mariupol, der zwei Wochen lang in einem Dorfschulhaus unter schmutzigen Bedingungen ausharren musste, bevor er zur Filtration gebracht wurde. Er sagte, viele seien krank geworden und hätten Angst vor dem, was sie erwartete. „Wir fühlten uns wie Geiseln“, sagte er.

[Lesen Sie auch: Filtrationslager und Zwangsumsiedlung: So werden Zehntausende Ukrainer nach Russland gebracht (T+)]

Ein Bericht der US-Eliteuni Yale hat allein 20 Standorte im Gebiet Donezk verifiziert, die für diese Verfahren genutzt wurden – für viele weitere gibt es zumindest Indizien. Eines davon, das Gefangenenlager Oleniwka, wurde am 29. Juli weltbekannt, als bei einer Explosion mutmaßlich 53 ukrainische Kriegsgefangene starben. Die Ukraine und Russland geben sich gegenseitig die Schuld.

Aus der Yale-Untersuchung geht jedoch hervor, dass schon lange vor dem tödlichen Vorfall Gräber in dem Lager ausgehoben wurden. Es wird gemutmaßt, dass Russland mittels der Explosion Kriegsverbrechen vertuschen wollte.

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