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„Ich torpediere nicht“ : Pistorius wehrt sich nach Scheitern von Wehrdienst-Kompromiss gegen Kritik
Eigentlich hatten sich die Fraktionen von Union und SPD auf ein neues Wehrdienstmodell verständigt. Dann trug der Minister seine Bedenken zu Form und Inhalt der Einigung vor.
Stand:
Ungewöhnlich war das Vorgehen der Koalition schon vor der ersten Lesung des Wehrdienst-Modernisierungsgesetzes, die für diesen Donnerstag um 13.30 Uhr im Deutschen Bundestag angesetzt war. Normalerweise wird dort über den vom Kabinett vorgelegten Gesetzentwurf gesprochen; Verhandlungen zwischen den Regierungsfraktionen, die sich auf den endgültigen Gesetzestext verständigen müssen, finden erst vor der abschließenden dritten Lesung statt.
In diesem Fall aber hatten die Abgeordneten von Union und SPD schon jetzt Hand angelegt und größere Veränderungen vorgenommen. Möglicherweise, wie zu hören war, um größere Meinungsverschiedenheiten nicht auf offener Bühne austragen zu müssen. Die Fraktionsvizes Norbert Röttgen (CDU) und Siemtje Möller (SPD) sowie die verteidigungspolitischen Sprecher Thomas Erndl (CSU) und Falko Droßmann (SPD) stellten die Einigung am Dienstagnachmittag erst ihren Fraktionen vor. Dann wollten sie an die Öffentlichkeit gehen.
Die Einladungen an die Hauptstadtpresse, die sich um 17.30 Uhr im Jakob-Kaiser-Haus einfinden sollte, waren am Vormittag verschickt worden. Jens Spahn hatte als Unionsfraktionschef bereits das sozialdemokratische „Ankommen in der sicherheitspolitischen Realität“ gelobt, auch sein SPD-Amtskollege Matthias Miersch verteidigte vor der Fraktionssitzung der Genossen den Kompromiss.
Wehrdienst-Gesetz: Selbst die Pressemitteilung war längst fertig
Selbst die fertige Pressemitteilung von Röttgen und Möller gab es vorab zu lesen. „Wir schaffen ein neues Wehrdienst-Stufenmodell“, hieß es darin, „welches in den ersten beiden Stufen bei der Einberufung auf Freiwilligkeit setzt“.
So wie im Koalitionsvertrag und von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) vorgesehen, soll die eklatante Personallücke bei der Truppe über einen zunächst freiwilligen neuen Wehrdienst geschlossen werden. Er soll mit dem kostenlosen Erwerb von Qualifikationen wie dem Führerschein und einem Sold von mehr als 2000 Euro netto so attraktiv sein, dass sich ausreichend Bewerber melden.
Es waren aber gerade die Unterschiede zum Modell des Verteidigungsministers, die den Wehrdienst-Kompromiss zumindest an diesem Dienstag scheitern und die schwarz-rote Koalition wieder einmal ziemlich alt aussehen ließen.
Anders als bei Pistorius, der selbst den Zeitpunkt bestimmen wollte, an dem das Freiwilligenmodell an sein Ende gelangt und vom Bundestag eine Rückkehr zur Wehrpflicht zu beantragen wäre, hatte die Union den Parteifreunden des Ministers im Parlament einen gewissen Automatismus abgetrotzt. Halbjährlich sollte überprüft werden, ob die benötigte Zahl von Bewerbern erreicht wird.
Falls nein, käme es zum Losverfahren. Sollten also weniger junge Menschen als benötigt in den zurückgeschickten Fragebögen ihre Bereitschaft zum Dienst in der Bundeswehr dokumentiert haben, würde in der zweiten Stufe, wie es in der vorbereiteten Mitteilung weiter geheißen hatte, „mittels eines Zufallsverfahrens bestimmt, wer zur verpflichtenden Musterung erscheinen muss“.
Diese jungen Männer sollten dann noch einmal gezielt angesprochen werden. Eine verpflichtende Einberufung wäre damit noch nicht verbunden. Die würde es nach einem entsprechenden Bundestagsbeschluss erst danach geben, nämlich nach einem Beschluss des Bundestages „in Stufe drei eine verfassungsrechtlich abgesicherte Bedarfswehrpflicht“. Erneut „durch ein Zufallsverfahren“ würden dann eine bestimmte Zahl von Männern verpflichtet.
Die Union gab dazu beim Verfassungsjuristen Udo di Fabio ein Gutachten in Auftrag, der das Zufallsprinzip für gerecht hält, wenn längst nicht alle 300.000 jungen Männer eines Jahrgangs benötigt werden: „Die Bestimmung des Kreises der aktiv Wehrpflichtigen mittels eines Losverfahrens ist mit dem Grundsatz der Wehrgerechtigkeit aus Art. 12a Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.“
Boris Pistorius verteidigt sich gegen Kritik
Was in beiden Fraktionsspitzen einigungsfähig war, war es für den Minister offenbar nicht. „Pistorius hat die SPD-Fraktion angezündet“, lautete das Urteil in Unionskreisen, nachdem die anberaumte Pressekonferenz ins Wasser und das Erscheinungsbild der Koalition auf ein neues Tief gefallen war. „Ich kann nicht verstehen, wie man einen Gesetzgebungsprozess als Verteidigungsminister derart torpedieren und sich so destruktiv verhalten kann“, klagte Röttgen gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
In sozialdemokratischen Kreisen wird bestätigt, dass der Minister mit harten Worten seine ehemalige parlamentarische Staatssekretärin Möller kritisiert haben soll: „Man greift seine stellvertretende Fraktionsvorsitzende nicht an.“ Von einem „faulen Kompromiss“ soll Pistorius gesprochen haben.
Für den Ärger im Ministerium sorgte einerseits das Prozedere, noch vor der ersten Lesung Änderungen vorzunehmen, für die im üblichen Verfahren genug Zeit gewesen wäre. „Ich torpediere nicht, und ich bin auch nicht destruktiv“, sagte Pistorius dem Tagesspiegel am Dienstagabend: „Ich habe nur gewisse Schwierigkeiten damit, dass zwei elementare Stellen meines Gesetzentwurfs geändert werden, bevor dieser überhaupt offiziell in den Bundestag eingebracht worden ist.“ Diese Bedenken habe er auch „nicht erst heute geltend gemacht“.
Vor allem sehen seine Militärs mit der Musterung einiger weniger tausend junger Männer nach dem Losverfahren einen Rückschritt im Vergleich zum eigenen Vorschlag. Der sieht vor, dass in zwei Jahren ein kompletter Jahrgang von rund 300.000 gemustert werden soll. „Die Bundeswehr braucht die flächendeckenden Musterungen ab 2027, die im aktuellen Kompromiss nicht enthalten sind“, so Pistorius. Er bitte im parlamentarischen Verfahren noch einen weiteren Punkt zu beachten: „Wir verlieren zudem viel Zeit, wenn die Truppe bei allen zur Musterung ausgelosten jungen Männern noch einmal aktiv für sich werben soll.“
Die Bundeswehr verspricht sich von der Musterung aller, im Spannungsfall genau zu wissen, auf wen sie dann zurückgreifen könnte – weil für ein solches Szenario die Wehrpflicht nie aufhörte zu existieren. Deshalb wird mit dem neuen Gesetz auch die sogenannte Wehrerfassung wieder eingeführt – die Bundeswehr bekommt das Recht, bei den Meldebehörden Daten potenziell Wehrpflichtiger zu erfragen. Sie hätte mit dem Kompromiss aber nicht das Musterungswissen über ihren körperlichen Zustand – weshalb Pistorius protestierte.
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