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Katrin Göring-Eckardt ist Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion. Vor zehn Jahren hatte sie unter Rot-Grün die Hartz-IV-Gesetze mit zu verantworten.

© picture alliance / dpa

Interview mit Katrin Göring-Eckardt: „Wenn man Fehler macht, muss man die auch zugeben“

Katrin Göring-Eckardt hat für die Grünen die Hartz-IV-Gesetze mitverhandelt. Jetzt spricht sie über die gesellschaftlichen Folgen dieser weitreichenden Reform. Lesen Sie hier das Interview im Wortlaut.

Frau Göring-Eckardt, sind Sie stolz darauf, dass die Grünen vor zehn Jahren die Hartz-Reformen mit auf den Weg gebracht haben oder bereuen Sie das heute?

Nein, ich bereue das nicht. Natürlich ist nicht alles gut gelaufen. Und manches hätten wir schon damals gerne anders gemacht, konnten uns aber in der Koalition mit der SPD oder in den Verhandlungen im Bundesrat nicht durchsetzen. Aber alles in allem war es richtig, dass wir nicht mehr in Arbeitslose erster und zweiter Klasse unterschieden haben. Es war richtig, dass wir die Leistungen pauschalisiert haben und man nicht mehr wegen jedes Küchenstuhls zum Sozialamt gehen und einen Antrag stellen musste. Und es war richtig, dass wir den Versuch unternommen haben, Arbeitslose individuell zu fördern. Auch wenn das mit der individuellen Förderung leider bis heute nicht so funktioniert, wie wir es uns erhofft haben.

Was war der größte Fehler bei der Einführung der Hartz-IV-Reform?
Dass wir es nicht geschafft haben, einen Mindestlohn für diejenigen einzuführen, die in der Leiharbeit tätig sind. Wir hatten uns damals mit der SPD darauf geeinigt, entweder Tariflöhne oder die ortsüblichen Löhne zu zahlen. Leider konnten wir das in den Bundesratsverhandlungen mit der Union nicht durchsetzen. Schlechter bezahlte Leiharbeiter haben dann in manchen Unternehmen Teile der Stammbelegschaft ersetzt, oder über sie konnten Firmen viel günstiger Überstundenabbau betreiben. Mit der Flexibilisierung der Leiharbeit wollten wir eigentlich das Einstellen erleichtern, aber bedauerlicherweise hat das dazu geführt, dass zu viele Menschen bis heute für weniger Geld arbeiten müssen, als ihnen eigentlich zusteht.

Was war Ihre größte Niederlage in den Verhandlungen?
Ich habe dafür gekämpft, dass das Schulessen in die Hartz-IV-Pauschale aufgenommen wurde. Das hatte zur Folge, dass das Essen nicht mehr vom Amt bezahlt werden musste, sondern von der Familie. Leider meldeten daraufhin viele Eltern ihre Kinder vom Schulessen ab. Kinder wurden dadurch ausgegrenzt. Das war für mich eine bittere Erfahrung.

Sie waren damals Fraktionschefin der Grünen im Bundestag und haben die Hartz- IV-Kompromisse in den eigenen Reihen durchsetzen müssen. Ist Ihnen das leichtgefallen?
Unter dem Druck der monatlich steigenden Arbeitslosenzahlen haben wir versucht, gemeinsam etwas Neues hinzubekommen. Gut war daran, dass wir konzeptionell arbeiten konnten.

Sie mussten sich einiges an Kritik gefallen lassen. Auf dem Grünen-Parteitag in Cottbus im Sommer 2003 haben Sie Gerhard Schröders Agenda-2010-Reformen verteidigt. Eine Parteikollegin rief damals: „Wir haben allen Grund, dieser Fraktion zu misstrauen.“ Haben Sie zu schnell zugestimmt?

Nein, wir sind Gerhard Schröder ja nicht blind gefolgt, sondern haben hart debattiert, intern genauso wie mit den Sozialdemokraten. Ich hatte manchmal allerdings den Eindruck, dass wir Grünen am Ende die Reform allein verteidigen mussten. Auf etlichen Podien hat sich zu dem Thema kein Sozialdemokrat mehr blicken lassen.

Haben Sie selbst nie gezweifelt?

Natürlich, von Anfang bis Ende. Wir haben es uns nicht einfach gemacht. Sonst hätten wir nicht nächtelang verhandelt. Wir fanden, dass die Grundsicherung zu niedrig angesetzt war. Bis zuletzt haben wir über die eigenständige Absicherung von Frauen gestritten, über den Sinn und Zweck von Sanktionen und darüber, wie man Arbeitslose individuell unterstützen kann. Wir mussten uns von der SPD vorhalten lassen, dass wir nur unsere eigene Klientel beschäftigen wollten, weil wir uns dafür eingesetzt haben, Hartz-IV-Empfänger stärker durch Sozialarbeiter zu unterstützen. Dabei gibt uns die heutige Situation recht. Mehr individuelle Begleitung wäre oft sehr hilfreich.

Die Grünen haben sich immer als Reformmotor der rot-grünen Regierung bezeichnet. Heute distanziert sich die Partei in ihren Wahlprogrammen von vielen Hartz-IV-Beschlüssen. Machen Sie sich vom Acker?
Nein, wenn man Fehler gemacht hat, muss man die auch zugeben können. Im Übrigen waren wir nicht nur der Reformmotor bei der Ökosteuer und dem Atomausstieg, sondern auch bei den Sozialreformen. Heute tun ja manche so, als sei das damals eine Sparaktion gewesen. Die Reform hat aber 4,2 Milliarden Euro mehr gekostet und gerade diejenigen, die vorher von Sozialhilfe gelebt haben, hatten mehr Geld auf dem Konto. Außerdem hatten sie Anspruch auf Fördermaßnahmen. Diese Art von Reformmotor finde ich nach wie vor richtig.

Die Grünen fordern mittlerweile, die Sanktionen bei Hartz IV auszusetzen. Geht es aus Ihrer Sicht ohne Druck?
Ich glaube schon, dass es einen bestimmten Druck braucht. Aber dieser Druck muss auch einhergehen mit der realen Möglichkeit, einen angemessenen Job zu finden. Und da liegt das Problem, weil es solche Jobs häufig nicht gibt. Wenn wir die Leute zwingen, einen schlecht bezahlten Job deutlich unter ihrer Qualifikation anzunehmen, ist das nicht vernünftig und zudem diskriminierend. Die Erfahrung zeigt außerdem, dass die Jobcenter, die stärker auf Förderung als auf Sanktionen setzen, deutlich erfolgreicher sind. Das gilt gerade bei der Vermittlung von jungen Leuten. Sanktionen helfen da oft überhaupt nicht.

Was würden Sie heute sagen: Wie hat Hartz IV das Land verändert?
Die Arbeitslosigkeit ist im letzten Jahrzehnt spürbar gesunken. Das ist nicht allein auf die Hartz-Reformen zurückzuführen, sie haben aber einen Anteil an diesem Rückgang. Hartz IV hat aber auch negative Effekte gehabt. Die Reform hat eine hohe Verunsicherung der Mittelschicht und Abstiegsängste mit sich gebracht. Für viele kam das damals völlig überraschend. Wir alle haben es versäumt, den Menschen zu erklären, worum es bei diesen Reformen wirklich ging. Bis heute merkt man, dass es keine richtige gesellschaftliche Debatte dazu gab.

In Deutschland hat Hartz IV einen schlechten Ruf, während man im Ausland neidisch auf das deutsche Beschäftigungswunder blickt. Gehen wir zu kritisch mit uns selbst um?
Das glaube ich nicht. Natürlich ist es gut, wenn viele Leute in Beschäftigung sind. Aber es gibt in Deutschland zu viele Menschen, die in unsicheren oder schlecht bezahlten Jobs arbeiten müssen. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist nicht wirklich zurückgegangen, die Kinderarmut auch nicht. In einem reichen Land wie Deutschland müssen wir uns die Frage stellen, was wir dagegen tun können.

Was empfehlen Sie heute im Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit?
Wir müssen dafür sorgen, dass mehr Leute dauerhaft aus Hartz IV rauskommen. Da ist es kontraproduktiv, wenn die Programme für Langzeitarbeitslose immer weiter gekürzt werden. Trotzdem sind hier in den letzten Jahren Milliardenbeträge eingespart worden. Wenn man Leute, die lange arbeitslos waren, auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereiten will, ist eine intensivere Förderung nötig. Und die kostet Geld.

Die Fragen stellte Cordula Eubel

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