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Italiens Rechte streitet: Erste Kandidaten gibt es - aber nur Stunden vor deren Amtseid
Schon die ersten Personalentscheidungen geben einen Vorgeschmack auf die Stabilität der Rechtskoalition: Um die Parlamentspräsidenten stritt man bis fast zur letzten Minute.
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Die Präsidentin konnte schon am Abend zuvor verkünden: Mission accomplished. “Meine Rede ist fertig. Sie werden mich natürlich nicht unvorbereitet erleben”, ließ Liliana Segre die wartenden Journalist:innen wissen. Die 92-jährige Mailänderin und Holocaust-Überlebende ist Senatorin auf Lebenszeit - eine Ehre, die Italiens Staatspräsidenten verdienten und meist prominenten Bürgerinnen und Bürgern zukommen lassen.
Als aktuell Älteste in der zweiten Kammer des Senats kam ihr die Aufgabe zu, die Rede zur Eröffnung der 19. Legislaturperiode des italienischen Parlaments zu halten. Der tatsächliche Älteste, der 97-jährige frühere Staatspräsident Giorgio Napolitano, konnte seiner angegriffenen Gesundheit wegen nicht teilnehmen.
Nicht unvorbereitet – das lässt sich von Italiens künftiger Rechtsregierung nicht sagen, trotz aller Mühen der designierten Premierministerin Meloni, im In- und Ausland einen Eindruck von Geschlossenheit und Seriosität zu machen. Bis in die späten Abendstunden stritten sich die Koalitionär:innen, Melonis „Fratelli d’Italia“, Berlusconi für seine Forza Italia und Matteo Salvini, Chef der Lega, um die ersten beiden zu besetzenden Ämter.
Nicht einmal zum Krisentreffen waren alle da
Erst gegen 22 Uhr am Mittwochabend gab es eine Einigung über die künftigen Präsidenten von Senat und Abgeordnetenhaus - etwa zwölf Stunden, also, bevor die Kammern über sie abstimmen sollten. Danach war für den Senat Ignazio La Russa gesetzt, zusammen mit Meloni Gründer der Partei. Den Vorsitz der Kammer sollte Riccardo Molinari übernehmen, ein Abgeordneter der Lega.
Ich als Fraktionschef habe gewählt, die andern wollten nicht. Das ist Demokratie.
Silvio Berlusconi, Parteichef von Forza Italia
Als Springteufel, in den Wochen seit der Wahl am 25. September und auch in den Stunden vor der konstituierenden Sitzung, erwies sich vor allem Matteo Salvini. Noch am Mittwoch hatte er durch einen seiner Getreuen verkünden lassen, er wolle auf jeden Fall das Innenministerium für sich - was vermutlich schon Staatspräsident Mattarella nicht akzeptieren würde - und einen der Präsidentenstühle für die Lega.

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Am frühen Abend erschien er, der bisher gern im Männerbund mit Berlusconi gegen Meloni auftrat, nicht zum Dreiertreffen bei Berlusconi - Meloni verließ dessen Villa auf der Via Appia nach gut einer Stunde ohne greifbares Ergebnis.
Das rechte Lager wählt die eigenen Kandidaten nicht
Am Donnerstagmorgen dann geben auch Berlusconis Leute, Melonis kleinste Juniorpartner, ihren Unmut zu Protokoll: Forza Italia wählte den gemeinsamen Kandidaten nicht mit. Ausgenommen, ausgerechnet, der Chef selbst und die bisherige Senatspräsidentin Maria Elisabetta Casellati. „Ich als Fraktionschef habe gewählt, aber die andern aus Forza Italia wollten nicht. Andererseits: Das ist Demokratie“, so der Kommentar des 86-Jährigen über eine Partei, die einmal als seine persönliche entstanden ist.
Demokratische Distanz zu ihrem Kompromisskandidaten zeigte die rechte Mehrheit pünktlich auch in der ersten Kammer, im Abgeordnetenhaus. Lega-Kandidat Molinari fiel im ersten Wahlgang zunächst durch.
Das Chaos im demnächst regierenden Lager komplettierte die Opposition, die Ignazio La Russas Wahl rettete: Mehr als ein Dutzend Stimmen für den Altrechten und Kandidaten der Gegenseite kamen von dort. Die Frage, aus welcher Fraktion genau, bliebt vorerst ungeklärt.
Die Opposition gespalten wie schon vor der Wahl, aber auch das Regierungslager streitet praktisch seit der Wahl über Posten und Richtung. Das gerade wollte Meloni, demnächst an der Spitze der „rechtesten Regierung Italiens seit Mussolini“, unbedingt vermeiden. Seit Wochen sucht sie fieberhaft eine seriöse Regierungsmannschaft zusammen, offenbar vor allem unter Nichtpolitikern und Fachleuten.
Von den Querschüssen ihrer Bündnispartner scheint sie weiter wenig beeindruckt. „Ich werde ständig unterschätzt“, wurde sie am Donnerstag aus dem kleinen Kreis zitiert.
„Nicht die Verfassung ändern, sondern sie verwirklichen“
Alterspräsidentin Liliana Segre appellierte in ihrer Eröffnungsrede genau an jene Einheit, die das Schauspiel am Donnerstag vermissen ließ: eine Einheit im Sinne der Demokratie und des Landes, die jeder reifen Demokratie eigen sei. Und sie kritisierte die Versuche der letzten Jahre, Italiens Verfassung von 1946 zu ändern - auch die Rechte ist mit diesem Vorhaben in den Wahlkampf gezogen. Sie will die Direktwahl des Staatspräsidenten und mehr Steuer-Föderalismus.
Sie frage sich, so Segre, „ob nicht die Energien, die für Änderungen der Verfassung aufgewendet werden, oft mit magerem Ergebnis, besser verwendet wären darauf, sie zu verwirklichen? Dann wäre unser Land gerechter und glücklicher.“
Segre verwies auf Artikel 3 der italienischen Verfassung, der jede Diskriminierung verbiete, sei sie rassistisch, des Geschlechts, der Sprache oder des sozialen Status eines Menschen wegen. Was die Mütter und Väter der Verfassung hier aufgeschrieben hätten, sei „keine Verfassungslyrik und keine Utopie, sondern muss der Leitstern für alle sein“. Die Ungleichheit im Land verhindere nicht nur die volle Entfaltung einzelner Menschen, sondern auch deren Beitrag zur Entwicklung Italiens.
Segres Publikum schien wie zu Pandemie-Zeiten ausgedünnt, viele Plätze im altmodischen Halbrund des Plenarsaals von Palazzo Madama, dem Sitz des Senats, waren leer. In der letzten Legislatur ist die Zahl der Abgeordneten beider Kammern um je ein rundes Drittel verkleinert worden.
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