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Auf der "Black Lives Matter"-Demo am 6. Juni 2020 in Berlin.

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187 Todesopfer: Jahrzehnte nahm das Land die Rechtsextremisten nicht ernst genug

Hanau, Halle, Walter Lübcke - das sind bekannte Anschläge rechter Mörder. Die wirkliche Zahl der Opfer ist viel höher, wurde aber lange nicht anerkannt.

Von Frank Jansen

Die Mörder kommen mit Schusswaffen, Bomben, Messern, Baseballschlägern, Hämmern, Eisenstangen, Brandsätzen. Sie töten nur mit ihren Fäusten und Füßen, die in schweren Stiefeln und auch unauffälligen Halbschuhen stecken. Oder sie treiben ihre Opfer in den Tod durch Ertrinken in einem Gewässer. Die Rechtsextremen sind in ihrer Gewalt wahllos. Die Opfer, fast immer schwächer als die Angreifer, haben keine Chance.

Die Gewalt trifft jeden. Flüchtlinge wie den 1991 verbrannten Samuel Yeboah, Linke wie den 1992 erstochenen Hausbesetzer Silvio Meier, Punks wie den 1996 zu Tode getretenen Sven Beuter, Polizisten wie den 1997 erschossenen Stefan Grage, Obdachlose wie den 2001 zu Tode gefolterten Dieter Manzke, geistig Behinderte wie den 2003 totgetretenen Andreas Oertel, Schwule wie den 2018 erschlagenen Christopher W.

Auch eine schwangere Frau wie Marwa al Sherbini wird attackiert, ein Rassist ersticht sie 2009 im Landgericht Dresden. 2019 stirbt beim ersten tödlichen rechtsextremen Attentat auf einen Politiker in der Geschichte der Bundesrepublik Walter Lübcke, Regierungspräsident von Kassel. Niemand kann sich sicher fühlen.

Seit der Wiedervereinigung haben rechte Täter mindestens 187 Menschen getötet. Das ergibt eine Langzeitrecherche des Tagesspiegels, die im September 2000 mit einer Auflistung von 93 Todesopfern rechter Gewalt seit Oktober 1990 begann. Die offizielle Zahl war viel geringer: 24 Menschen hatten aus Sicht der Polizei ihr Leben bei Angriffen rechter Täter verloren.

Zwei Jahrzehnte später ist die Lücke zwischen der offiziellen Bilanz und den Recherchen der Zeitung nicht mehr ganz so groß, bleibt aber verstörend.

Sehen Sie hier die Liste der Todesopfer rechter Gewalt mit Hintergrundinformationen zu den Betroffenen und der Tat.

Nachdem im Februar der Rassist Tobias Rathjen in Hanau neun junge Männer und Frauen aus Einwandererfamilien erschoss, kommt die Polizei auf insgesamt 109 Todesopfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung. Ohne die Recherchen des Tagesspiegels, der erst mit der „Frankfurter Rundschau“ kooperierte und jetzt mit „Zeit Online“, wären jedoch Dutzende der 109 Toten bis heute nicht offiziell als Opfer rechter Täter anerkannt.

Nur durch den Druck der Medien, unterstützt durch zivilgesellschaftliche Initiativen wie dem Potsdamer Verein Opferperspektive und begleitet durch hartnäckige Fragen vor allem linker und grüner Abgeordneter, hat sich etwas bewegt. Der Befund ist heute ähnlich wie 2000: Viele Länder tun sich schwer, das Ausmaß mörderischer Gewalt von rechts wahrzunehmen.

Oft dauert es jahrelang, bis Tötungsdelikte als politisch motiviert eingestuft werden. Die Republik leistet sich oft einen getrübten Blick. Die Sehkraft variiert indes je nach Behörde und Minister.

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Der erste Politiker, der die Diskrepanz zwischen offizieller und zivilgesellschaftlicher Zahl von Toten nicht hinnahm, war Otto Schily (SPD), im September 2000 Bundesinnenminister. Er gab auf Anfrage schon am Tag vor der ersten Sonderveröffentlichung von Tagesspiegel und „Frankfurter Rundschau“ zu, es gebe „Erfassungsdefizite“. Schily redete dann energisch auf Länderkollegen ein. Mit Erfolg.

Obwohl sich die Länder nur ungern vom Bund ermahnen lassen, wurden Altfälle als rechte Gewalt nachgemeldet. Schon im November 2000 konnte Schily verkünden, die offizielle Zahl der Todesopfer sei 36. Das waren 50 Prozent mehr als im September. Aber die nachgemeldeten Fälle waren auch zu heftig, um weiter als unpolitisch abgetan zu werden.

Erst das Auffliegen des rechtsextremen NSU öffnet vielen Menschen die Augen

Ein Beispiel: Berlin und Schleswig-Holstein hatte die Anschläge des Neonazis Kay Diesner nicht gemeldet. Diesner hatte im Februar 1997 im Berlin einen linken Buchhändler angeschossen und auf der Flucht in Schleswig-Holstein mit seiner Pumpgun den Polizisten Stefan Grage getötet. Ein weiterer Beamter wurde schwer verletzt.

Das Landgericht Lübeck verurteilte Diesner zu lebenslanger Haft und bescheinigte ihm besondere Schwere der Schuld. Die Richter sahen bei Diesner „übles rechtsradikales Gedankengut“. Dennoch wurde der Fall erst Ende 2000 als rechter Mord eingestuft.

Nachdem Schily die Länderkollegen getrieben hatte, tat sich lange Zeit nicht viel. Hier und da wurden Fälle nachgemeldet, der Tagesspiegel nannte in weiteren Sonderveröffentlichungen stetig wachsende Zahlen bei Todesopfern rechter Gewalt. Doch es war zu ahnen: Erst bei extremen Tragödie wird der Staat den Blick auf die mörderische Dimension des Rechtsextremismus wieder weiten.

Die Tragödie, die dann im November 2011 schockartig der Republik bewusst wurde, obwohl sie lange schwelte, war der NSU.

Nach dem dramatischen Ende der Terrorzelle, die zehn Menschen ermordet hatte, begannen Minister und Behörden in einigen Ländern umzudenken. Der Fall NSU belegte, dass Sicherheitsbehörden versagt hatten und die Wahrnehmung rechter Gewalt unterentwickelt war.

Demonstranten halten bei einer Kundgebung Schilder mit Porträt Abbildungen der NSU-Opfer. In München war am Morgen der Prozess gegen den rechtsterroristischen NSU mit Schuldsprüchen zu Ende gegangen.
Demonstranten halten bei einer Kundgebung Schilder mit Porträt Abbildungen der NSU-Opfer. In München war am Morgen der Prozess gegen den rechtsterroristischen NSU mit Schuldsprüchen zu Ende gegangen.

© Lino Mirgeler/dpa

Kaum jemand in Staat und auch Gesellschaft hatte gefragt, ob die von 2000 bis 2006 verübten Morde an neun Migranten türkischer und griechischer Herkunft rassistisch motiviert sein könnten. Mit dem NSU-Schock wurde dann die Frage drängender, ob die Republik noch mehr Morde falsch gewertet hatte. Der erste Landespolitiker, der es genau wissen wollte, war Holger Stahlknecht (CDU), Innenminister in Sachsen-Anhalt.

Er bat 2012 den Tagesspiegel, Altfälle aus Sachsen-Anhalt zu nennen. Es waren neun. Landeskriminalamt und Generalstaatsanwaltschaft stellten fest, drei Fälle müssten als rechte Tötungsverbrechen nachgemeldet werden. Es folgten Brandenburg und Berlin. Beide kooperierten bei der Untersuchung ihrer Altfälle mit Wissenschaftlern. Das Ergebnis: Brandenburg meldete 2015 neun Gewalttaten als rechts motiviert nach, in Berlin waren es 2018 dann sechs Fälle mit sieben Todesopfern. Zwei Tote waren 1997 von einem Neonazi erstochenen Neonazis.

Die Gefahr rechter Militanz wächst weiter

Thüringen will inzwischen ebenfalls Altfälle prüfen, in Niedersachsen wird darüber diskutiert. Die anderen Länder bleiben stumm oder bewegen sich nur langsam. Bayern stufte 2019 nach langen Debatten das Massaker von David Sonboly als rechte Gewalttat ein. Der rassistische Deutschiraner hatte im Juli 2016 in München neun Menschen aus Sinti-, Roma- und Zuwandererfamilien erschossen.

Und die Gefahr rechter Militanz wächst weiter. Der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019, der Angriff im Oktober von Stephan Balliet in Halle, der die Synagoge stürmen wollte und zwei Passanten erschoss, und dann der Anschlag im Februar 2020 mit neun Rassismusopfern in Hanau zeugen von einer weiteren Entgrenzung rechter Gewalt.

Dennoch bleibt offen, ob diese Tragödien nun auch dazu führen, wieviele Länder länger zurückliegende Tötungsverbrechen prüfen, die mutmaßlich rechts motiviert waren. Einen Lichtblick gab es im Ende 2019.

Im Fall eines tödlichen Brandanschlags von 1991 wird jetzt wieder ermittelt

Der damalige Chef des LKA Nordrhein-Westfalen, Frank Hoever, korrigierte die Bewertung eines Falles aus 2003. Damals hatte der Ex-Söldner Thomas Adolf in Overath den Anwalt Hartmut Nickel, dessen Tochter Alja und Nickels Ehefrau Mechthild Bucksteeg erschossen. Das Landgericht Köln verurteilte Adolf 2004 zu lebenslanger Haft, nannte die Schuld besonders schwer und sah ein nationalsozialistisches Motiv. Doch es dauerte 16 Jahre, bis der Fall als das bewertet wurde, was er war: dieTat eines Nazis, der aus Hass drei Menschen ermordete.

Und dann gibt es noch den untypischen Fall Samuel Yeboah. Der Ghanaer starb 1991 beim Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim im Saarlouis, 18 Menschen wurden verletzt. Die Polizei stufte den Fall erstaunlicherweise als rechts ein, obwohl kein Täter bekannt war. Das könnte sich nun ändern. Die Bundesanwaltschaft hat 2020 Jahr die Ermittlungen übernommen. Fast 30 Jahre nach dem Anschlag zeigt der Rechtsstaat einen langen Atem. Und korrigiert womöglich Versäumnisse.

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