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Dalai Lama: Jasmin-Revolution von oben

Während andere Herrscher sich an die Macht klammern, will der Dalai Lama sie loswerden. Doch sein Volk will den Gottkönig nicht gehen lassen.

Man könnte eine Stecknadel fallen hören, so still ist es im Saal, als Pena Tsering das in rotgoldene Seide gewickelte Schreiben auspackt. Ehrfürchtig fasst er es mit den Fingerspitzen an. Aus dem Fenster sieht man die schneebedeckten Gipfel der Himalayas, der Himmel an diesem Frühlingsmontag ist strahlend blau. Doch Tsering ist schwer ums Herz. Am liebsten wäre es ihm, es gäbe dieses Schreiben nicht. Trotzdem trägt er die sieben Seiten Wort für Wort vor, das ist sein Job. Der 44-jährige in der grauen Robe ist Sprecher des tibetischen Exil-Parlaments im indischen Dharamsala. Mit ernsten, fast versteinerten Mienen hören die 43 Abgeordneten zu. "Dieser Brief wird Historie werden", sagt Tsering - es klingt düster.

Das Schreiben stammt von Seiner Heiligkeit höchstselbst: Tenzin Gyatso, dem 14. Dalai Lama. Und es läutet das Ende einer Ära ein. Beinahe 400 Jahre haben die Gottkönige der Tibeter die weltliche und religiöse Macht auf sich vereint. Damit will der Dalai Lama nun brechen. Spirituelles Oberhaupt bleibt er auf Lebenszeit, ein Gott kann nicht abdanken. Aber nach 60 Jahren will er seine politische Macht an einen gewählten Regierungschef abgeben. Schon oft hat er davon geredet. "Aber nun meint er es ernst", sagt Tsering. Gerade zehn Tage, bis zum 25. März, gibt er dem Parlament Zeit. Bis dahin wolle er von "aller formeller Autorität komplett befreit sein", schreibt er. Niemand spricht es offen aus, aber es geht hier auch um seinen Tod. Der Mönch will sein politisches Erbe regeln und die Tibeter in die Demokratie führen, solange er es noch kann.

Es ist eine Art Jasmin-Revolution von oben. Doch sein Volk will ihn nicht gehen lassen. Seit Tagen werde man mit Bitten, Briefen und Emails überschwemmt, dass er bleiben möge, sagt Tsering. Er atmet tief durch, dann platzt es auch aus ihm heraus. "Wenn Sie mich persönlich fragen - es ist nicht die richtige Zeit für ihn, zurückzutreten." Aus dem Mund eines Tibeters sind solche Worte geradezu unerhört. Und sie zeigen, wie aufgewühlt, wie schockiert die Menschen sind. Nie haben sie die Weisheit des Dalai Lama angezweifelt, nie Kritik an ihm geäußert. Doch nun rumort es. Es sei nicht auszuschließen, dass ihm das Parlament die Gefolgschaft verweigere - oder einen Volksentscheid einberufe, sagt Tsering. "Es ist ein solch drastischer Schritt. Wir müssen unsere Gefühle ausdrücken können."

Tsering ist sich der historischen Ironie sehr wohl bewusst. Überall auf der Welt klammern sich Despoten an die Macht, kämpfen Menschen verzweifelt für Demokratie. "Nur bei uns ist es das Gegenteil", sagt er und lacht laut, als habe er einen Witz gemacht. Und schlitzohrig, wie Seine Heiligkeit ist, hat er die Bombe nun platzen lassen: Am 20. März wählen die Exil-Tibeter einen neuen Regierunschef. Drei Kandidaten treten an. Alle drei sind gebildet, auslandserfahren und keiner ein Mönch - und einer von ihnen soll nun der politische Erbe des Dalai Lama werden. Aber kann er die Aufgabe stemmen? Die Tibeter seien noch nicht reif für diesen Schritt, glaubt Tsering. Dem Dalai Lama stehen die Türen der Mächtigen offen, sein Wort hat weltweit Gewicht. "Kein anderer Tibeter kann das." Würde ein Barack Obama, eine Angela Merkel auch den gewählten Regierungschef der Exil-Tibeter empfangen? Der 44-jährige schüttelt zweifelnd den Kopf. Bis heute hat kein einziger Staat die tibetische Exil-Regierung auch nur anerkannt. Ohne den Dalai Lama drohe der tibetischen Sache ein Riesenrückschlag, sorgt er sich.

Überirdische Vaterfigur

Durch die schmalen Gassen von Dharamsala mit ihren Souvenir-, Schmuck- und Klamottenständen schlendern Hippies in bunten Pluderhosen, Mönche in roten Kutten und westliche Sinnsucher. Bunte, tibetische Gebetsfahnen flattern im Wind. Doch in den Häusern, Küchen und Bars der Tibeter ist die Stimmung gedrückt. Die Menschen haben den Schock noch nicht verdaut. Der Dalai Lama ist das Herz und die Seele, das Gesicht und die Stimme dieses geschundenen, heimatlosen Volkes. In jedem Haus, in jedem Lokal lacht einem sein Porträt entgegen. Und in den Büros fungiert Seine Heiligkeit sogar als Bildschirmschoner. Und nun fühlen sich die Menschen wie verlassene, verlorene Kinder, die plötzlich alleine zurecht kommen sollen. Rund fünf Millionen Tibeter leben in China, 100 000 in Indien und weitere Tausende verstreut über die Welt, in Nepal, Bhutan, in Europa und den USA. Der Dalai Lama hat sie geeint, über alle Grenzen hinweg. Wie eine fast überirdische Vaterfigur.

Vor allem den alten Menschen, den gebeugten Frauen mit den traditionellen Schürzenkleidern, den alten Männern mit ihren von der Sonne zerfurchten Gesichtern, bricht es das Herz. Sie sind dem blutjungen Mönch einst ins Exil gefolgt, sie sind mit ihm alt geworden. Vor 52 Jahren ist der Dalai Lama in Dharamsala gestrandet, nach einer abenteuerlichen Flucht über die Berge, damals nach dem gescheiterten Tibet-Aufstand gegen China. Indien bewies die Größe, ihn aufzunehmen. Gerade 23 Jahre alt war er. Der Mönch mit dem glucksenden Lachen machte den Buddhismus zur Weltmarke, stieg im Westen zum religiösen Rockstar auf und heimste den Friedensnobelpreis ein. Doch auch an einem Gott geht das Alter nicht spurlos vorbei. 76 Jahre alt wird er am 6. Juli. Natürlich wird er weiter durch die Welt touren, um für Tibet zu werben. Doch immer öfter wirkt er müde, erschöpft.

Und wie ein böser Geist sitzt ihm China im Nacken. Ausgerechnet das kommunistische Regime schwingt sich neuerdings zum Hüter des Buddhismus auf. Es ist kein Geheimnis, was China im Schilde führt. Nach dem Tod des Dalai Lamas will Peking will einen Nachfolger von eigenen Gnaden suchen, um die Tibeter zu spalten und ihre Bewegung zu enthaupten. Der Dalai Lama hat dieser Marionette bereits die Legitimität abgesprochen. Wenn er wiedergeboren werde, dann nicht in einer Diktatur. Vielleicht werde mit ihm die Reinkarnation auch enden, sagt er. Für diese Zeit will er die Tibeter wappnen. Ein gewählter Regierungschef soll die Führung übernehmen und ein Machtvakuum verhindern. Hartnäckig schubst und schiebt der lebende Buddha nun sein unwilliges Volk in Richtung Demokratie.

Der Dalai Lama sei "sehr klug", sagt Tsewang Rigzin. "Er bereitet uns auf die Zukunft vor. Er ist ein visionärer Führer." Rigzin ist 39 Jahre alt, er trägt Jeans und ein weißes Baseball-Cap und spricht mit einem so starken amerikanischen Akzent, dass man sich unversehens nach New York versetzt fühlt. Tatsächlich hat er 18 Jahre in Minnesota gelebt. Er hatte alles, wovon andere träumen: Eine Familie, einen hochbezahlten Job als Bänker und eine Green Card für das Traumland USA. Dennoch hat er keine Sekunde gezögert, alles hinzuschmeißen und in das Himalaya-Nest zu ziehen, als er im Jahr 2007 zum Chef des Tibetischen Jugendkongresses gewählt wurde. Seitdem sieht er seine Frau und seine beiden Töchter nur noch wenige Tage im Jahr. "Mein Land ist wichtiger als mein persönliches Glück", sagt er.

Das weißgrüne Gebäude des Jugendkongresses liegt nur 50 Meter vom Hauptplatz von McLeod Ganj, dem Tibeter-Viertel von Dharamsala, entfernt. Der Jugendkongress mit seinen 35 000 Mitgliedern ist die politische Kaderschmiede der Exil-Tibeter. Natürlich sind die Jungen radikaler. Die Forderung des Dalai Lamas nach tibetischer Autonomie geht ihnen nicht weit genug, sie wollen Unabhängigkeit. Dennoch rütteln sie nicht an einer Autorität. Rigzin gehört zu jenen, die hinter dem Rückzug des Dalai Lamas stehen. "Wir müssen lernen, selbst Verantwortung zu übernehmen."

Könnten sich die Tibeter nach dem Rückzug des Dalai Lama radikalisieren, möglicherweise sogar zu den Waffen greifen? Rigzin zögert keine Sekunde: "Nein, unser Kampf wird gewaltlos bleiben". Doch droht den Tibetern und ihrem Kampf nicht das Vergessen, wenn sie ihre prominenteste Stimme verlieren? Ja, natürlich könnte es schwerer werden, Gehör zu finden. Aber was sind die Alternativen, fragt Rigzin. "Seine Heiligkeit bleibt unser Führer, solange er unter uns weilt. Aber auch wenn wir uns es wünschen, der Dalai Lama wird nicht ewig leben." Ist der Kampf der Tibeter nicht ohnehin längst verloren? Rigzin kontert mit Gegenfragen: Schien nicht auch das Ende der Apartheid, der Fall der Mauer, die Einheit Deutschlands über Jahrzehnte eine blauäugige Illusion? "Solange wir kämpfen, haben wir eine Chance. Wenn wir die Hoffnung verlieren, sind wir tot."

Beten für die Peiniger

Überall trifft man auf Ven Bagdro. Unermüdlich zieht er durch die Cafes, verteilt Flugblätter und erzählt den Touristen von seiner Heimat. Über die rote Mönchskutte hat der 40-jährige einen Pullover gegen die Kälte gestreift. Seine Augen lassen einen nicht los. Sie scheinen im selben Moment zu weinen und zu lachen, heiter und traurig zu sein. Er wurde in Tibet geboren. Als 20-jährigen haben ihn die Chinesen ins Gefängnis geworfen, weil er gegen ihr Regime demonstrierte. Fast vier Jahre hielten sie ihn gefangen, haben ihn gefoltert. "Die Hölle auf Erden" heißt das Buch, dass über diese Zeit schrieb. Halbtot und halbirre war er, als er freikam. "Ich wog noch 39 Kilogramm". Drei Monate hat die Flucht aus Tibet nach Dharamsala gedauert. Abwechselnd haben seine Begleiter ihn, dieses gequälte, gemarterte Bündel Mensch, auf dem Rücken über die Berge geschleppt, in der Nacht marschierten sie, tagsüber versteckten sie sich vor den chinesischen Häschern. "Ich habe sie angefleht, mich sterben zu lassen. Aber sie wollten mich nicht zurücklassen."

Voller Hass auf die Chinesen sei er damals gewesen, sagt Bagdro. Doch dann habe der Dalai Lama ihn in seine Arme genommen und gesagt, dass Ärger zu nichts führe. "Heute bete ich jeden Tag für meine Peiniger und ihre Familien, für jene Polizisten, die mich gefoltert haben", sagt er. Sein ein Körper ist voller Narben, aber seine Wangen sind wieder rund und rosig. Nun versucht er, die Welt auf das Leid in Tibet aufmerksam zu machen. Ähnlich wie in Burma sind auch die Mönche Tibets eine starke politische Kraft, die Vorhut der Proteste. "Wir haben keine Familie, keine Frauen und Kinder, für die wir Verantwortung tragen. Wir riskieren nur unser eigenes Leben", sagt Bagdro. Auch ihn hat die Entscheidung des Dalai Lama schockiert. Zu früh sei es für seinen Rückzug, findet er wie so viele. Mindestens fünf bis zehn Jahre bräuchten die Tibeter noch, um den Sprung in die Demokratie zu schaffen. Doch der Dalai Lama wäre nicht der Dalai Lama, wenn er dieses nicht bedacht hätte. Er sei viel zu weise, um sein Volk von heute auf morgen ins kalte Wasser zu werfen, glaubt Bagdro. Er werde es an die Hand nehmen, bis es flügge sei. Es "war ein Weckruf an alle Tibeter. Es wird Zeit, dass wir erwachsen werden."

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