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Die Millennial-Generation verbringt immer mehr Zeit am Smartphone.

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Jugendbewegung: Wo bleiben die Erben der 68er?

Die Protestgeneration der 68er hat ein großes Erbe hinterlassen - das Problem ist nur: Niemand tritt es an. Wo bleibt die Gegenkultur? Ein Essay zum 50. Todestag von Benno Ohnesorg.

Ein Essay von Max Tholl

Vor 50 Jahren verändert eine Kugel vom Kaliber 7,65 die Bundesrepublik. Sie trifft den wehrlosen West-Berliner Studenten Benno Ohnesorg, der am 2. Juni 1967 gemeinsam mit seinen Kommilitonen gegen den Staatsbesuch des Schah von Persien protestiert. Der junge Mann, der zu Boden geht und kurz darauf verstirbt, wird zum Märtyrer einer ganzen Generation. Was in Kalifornien als Studentenprotest gegen Vietnamkrieg, Atomrüstung und Rassismus anfing, kommt spätestens durch Ohnesorgs Tod auch in Deutschland an: die Gegenkultur der 68er.

Ihr Schatten ist lang. Die 68er säßen auch heute noch wie ein Pfahl im Fleisch der Gesellschaft, schreibt der Sozialphilosoph Oskar Negt. Der Jugendbewegung gelang es, ihre Themen – Gleichberechtigung, soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz – im Bewusstsein der Gesellschaft zu verankern. Vor allem aber gelten die 68er als Blaupause der jugendlichen Revolte. Es gibt nur ein Problem: Niemand verwendet sie mehr.

Wieso nicht? Es mangelt schließlich nicht an Gründen: der Vormarsch der Populisten, eine voranschreitende Klimakatastrophe, Donald Trump im Weißen Haus und die menschliche Tragödie des Syrien-Kriegs. Kulturpessimisten wie der jüngst verstorbene britische Kulturtheoretiker Mark Fisher attestieren der heutigen Jugend eine „kulturelle Depression“. Anstatt sich weiterzuentwickeln, sei die Jugendkultur zur selbstreferentiellen Nabelschau verkommen und stecke in der Endlosschleife fest. Trends der Vergangenheit werden neu aufgetischt und miteinander vermischt. Retro ist zwar kein neues Phänomen, aber es war noch nie so kulturbestimmend wie heute. Nostalgie ist zur treibenden Kraft geworden: Die Jugend krallt sich an den Utopien der Vergangenheit fest, statt eigene zu skizzieren.

Die heutige Jugend zitiert statt zu schaffen

Als „Retromania“, als Sucht nach der eigenen Vergangenheit, bezeichnete der britische Musikkritiker Simon Reynolds diese Malaise in seinem gleichnamigen Bestseller. Die heutige Jugendkultur, schreibt Reynolds, sei nur noch eine Aneinanderreihung von Echos, sie zitiere statt zu schaffen. Dabei ist Jugendkultur das Fundament jeder Jugend- und Gegenbewegung. Wer aber nur noch zitiert, kann keine neue Bewegung bilden, sondern kopiert nur Bestehendes. Eine kulturelle Revolution, wie sie 1968 stattfand, ist dann praktisch unmöglich.

Der US-Historiker Theodore Roszak, dessen 1969 erschienenes Buch „Gegenkultur“ den Begriff erst prägte, argumentierte, dass die Gegenkultur die absolute Ablehnung der vorherrschenden Kultur zum Ziel haben muss. Jeder Kompromiss würde sie zu einem Widerspruch ihrer selbst machen. Die Gegenkultur darf also nie Teil des Mainstreams werden, sondern muss dessen Gegenentwurf bleiben. Genau das ist ihre Achillesferse. Denn sie setzt auf den Tabubruch als Statement, und nichts ist so reizvoll und deshalb so einfach zu vermarkten wie der.

Ihr äußeres Erscheinungsbild war die stärkste Waffe der Hippies oder Punks. Nichts zeigte die Ablehnung des bürgerlichen Habitus so plakativ wie langes Haar, Irokesenschnitt oder mit Sicherheitsnadeln zusammengehaltene Kleidung. Das Ikonische der Protestsymbolik war aber spätestens dann diskreditiert, als es sich in den Schaufenstern wiederfand. Aus Subversion wurde Konsum.

Seit dem Fall der Berliner Mauer fehlen die Antworten

Der Gegenkultur wurde der Zahn gezogen. Nicht nur weil sie kulturell entwaffnet wurde, sondern vor allem, weil ihr nach dem Fall der Berliner Mauer keine politische Antwort auf den von ihr verhassten Neoliberalismus mehr einfiel. Mark Fisher konstatierte, dass wir gegenwärtig im „kapitalistischen Realismus ohne Alternative“ leben, und der linke Star-Philosoph Slavoj Žižek stellt resigniert fest, dass der Kapitalismus sich die Kapitalismuskritik mittlerweile einverleibt hat. Ein klarer politischer Gegenentwurf fehlt. Es bleibt die Feststellung, dass es einfacher geworden ist, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus.

Selten wurde das deutlicher als nach dem Crash der Finanzwelt 2007. Occupy Wall Street war der vielbeachtete erste Versuch, die Gegenkultur ins 21. Jahrhundert zu hieven. In Großstädten rund um den Globus formierte sich Widerstand gegen ein ungerechtes und ausbeuterisches Finanzwesen. Doch bereits nach wenigen Monaten ebbte die ursprüngliche Euphorie-Welle ab – ähnlich wie bei den Indignados in Spanien oder der Syriza-Bewegung in Griechenland, die, einmal an der Macht, sich selbst entradikalisierte. Einen „kreativen Misserfolg“ nannte Occupy-Mitbegründer Micah M. White die Proteststrategie später. Kürzlich kündigte er sogar das Ende des linken Protests an, da er weder Trump noch den Klimawandel zu verhindern half.

Das Internet als letzte Utopie ist auch längst gescheitert

Die 68er waren die letzte jugendliche Gegenkultur, seither wird zitiert.
Die 68er waren die letzte jugendliche Gegenkultur, seither wird zitiert.

© picture alliance / dpa

Was White außer Acht lässt: Occupy scheiterte nicht nur an der Strategie, sondern mangels eines kulturellen Unterbaus. Es war ein Versuch, Gegenkultur nach dem Modell der 68er aufzubauen, ohne ihr einen kulturellen Kontext zu geben. Die wenigen Protestlieder der Bewegung stießen auf taube Ohren. Occupy schaffte es nicht, jene Symbiose zwischen Kultur und Politik herzustellen, die für die Entstehung einer Gegenkultur unabdingbar ist.

Hoffnung legte Occupy und jede folgende Protestbewegung vor allem auf das Befreiungs- und Vernetzungspotenzial des Internets. Digital-Apologeten – nicht selten selbst Teil der 68er – preisen den technologischen Wandel als die einzige revolutionäre Utopie, die der Gesellschaft geblieben ist. Das Internet ist dadurch zum Experimentierfeld für alternative Lebens- und Wirtschaftsentwürfe geworden: In der utopischen Erzählung des Silicon Valley lösen Bitcoins das Geldwesen ab, die Sharing-Economy stellt die Konsumgesellschaft an den Pranger, Crowdfunding ermöglicht eine Alternativwirtschaft und die künstliche Intelligenz sorgt für die Bewusstseinserweiterung.

Die Realität sieht allerdings anders aus: Bitcoins finanzieren eine kriminelle Schattenwirtschaft, aus der Sharing-Economy erwuchs die ausbeuterische Gig-Economy mit ihren Niedriglöhnen, und die künstliche Intelligenz wird bisher hauptsächlich zu Werbezwecken verwendet. Im Grunde ähneln die Ziele der heutigen Tech-Industrie denen der 68er. Ihre Motive aber sind grundverschieden, denn es geht den meisten Unternehmern aus dem Silicon Valley nicht darum, die Wirtschaft oder die Gesellschaft fairer zu gestalten, sondern die Grenzen des Möglichen auszutesten. Das ist revolutionär, aber nicht subversiv. Stattdessen ist um die Start-up-Industrie ein Hype erwachsen, der sich nicht auf gesellschaftlichen Wandel stützt, sondern darauf, möglichst viele bestehende Geschäftsmodelle obsolet zu machen und sie durch neue, effizientere zu ersetzen.

Massenüberwachung, Desinformation, Ernüchterung

Auch die Hoffnung, dass das Internet ein Bindeglied und Instrument der Demokratie sein kann, zerschellte nicht zuletzt an der systemischen Massenüberwachung und den gezielten Desinformationskampagnen der digitalen Welt. Die Erzählung vom Internet als Protestplattform, die Menschen weltweit vereint und die im Zuge des Arabischen Frühlings propagiert wurde, hat kein Happy End gefunden. Das revolutionäre Potenzial des Internets hat sich als zweischneidiges Schwert entpuppt. Nie war der Zusammenschluss von Gleichgesinnten einfacher: Selbst die kleinste Subkultur ist heute sichtbar und erreichbar. Genau das hat aber zu einer Zersplitterung und Fragmentierung geführt, die es schwer macht, aus den vielen Einzelteilen eine Bewegung zu formen, die eine revolutionäre Kraft freisetzen könnte.

Das alles kann pessimistisch stimmen. Die Dystopie darf aber nicht die Utopie als Leitmotiv der Gegenkultur ablösen. Eine Jugendbewegung als Korrektiv gegen den Status Quo ist notwendiger denn je. Nicht zuletzt, weil der Begriff der Gegenöffentlichkeit nicht den Neurechten überlassen werden darf, die ihn zweckentfremdet haben, um daraus Kapital zu schlagen. Die Antwort auf den Rechtspopulismus muss eine Gegenkultur sein, die die offene und freiheitsliebende Gesellschaft verteidigt. Letztere muss auf der Straße und im Netz vor Angriffen geschützt werden, denn der gesellschaftliche Fortschritt, den die 68er vorangetrieben haben, ist bis heute nicht selbstverständlich, sondern weiterhin hart umkämpft.

Idealismus ist oft naiv, aber nie überflüssig

Die protestierenden Studenten haben die Welt damals nicht von allem Übel befreit. Sie haben lediglich einen Prozess in Gang gesetzt, indem sie ein Bewusstsein für gesellschaftliche Missstände schufen. Die 68er haben gezeigt wie Rebellion und Revolution funktionieren, jetzt ist es an der Zeit aus ihrem Schatten zu treten, eine eigene Gegenkultur zu erschaffen und sie auf gegenwärtige Probleme auszurichten. Die sind komplexer und zahlreicher geworden, aber nicht grundlegend anders: Krieg, Diskriminierung und Ausbeutung waren nie aus der Welt, sie wirken heute nur anders und im Zusammenspiel mit neuen Problemen, die das digitale Zeitalter bedingt. Der Idealismus, mit dem vergangene Jugendkulturen sich aufbäumten, war naiv und oft realitätsfern, aber genau deshalb so ansteckend und kraftvoll. Er bedient, genau wie der Populismus, die Emotionen und kann mobilisieren. Die Politik vermag das nicht mehr und braucht eine zivile Kraft als Partner und Herausforderer. Resignation verbietet sich angesichts der Fülle gesellschaftlicher und weltpolitischer Probleme. Um sie anzugehen und zu lösen, brauchen wir eine Dosis jugendlichen Idealismus.

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