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Politik: Keine Zeit für Kinder in Deutschland

Neue Unicef-Studie zeigt alle Mängel auf – auch bei Eltern / Armutsrisiko ist in Berlin besonders hoch

Berlin - Deutschland ist kein besonders kinderfreundliches Land. Das geht aus einer neuen Studie des UN-Kinderhilfswerks Unicef hervor, die am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde. Erstmals werden in diesem Bericht die Lebensumstände von Kindern in 21 Industriestaaten verglichen. Deutschland kam dabei nur auf Platz elf. „Wir sind wieder einmal im Mittelfeld gelandet“, sagte die Unicef-Vorsitzende Heide Simonis. An der Spitze stehen die Niederlande, gefolgt von Schweden, Dänemark und Finnland. Besonders schlecht schnitten dagegen Großbritannien und die USA ab.

Für die Studie verglich Unicef die materielle Situation der Kinder, Gesundheit, Bildung, die Beziehungen zu Eltern und Gleichaltrigen, die Lebensweise und das Risikoverhalten sowie die eigene Einschätzung der Betroffenen. In keinem Bereich kam Deutschland über Durchschnittswerte hinaus. Die Wirtschaftsleistung eines Landes hat der Studie zufolge keine direkten Auswirkungen auf die Lebensumstände der Kinder. So wurde die Bundesrepublik beim Vergleich der materiellen Situation von Kindern sogar von Tschechien überholt. Von ihrer beruflichen Zukunft erwarten sich deutsche Jugendliche ungewöhnlich wenig: Jeder dritte 15-Jährige geht davon aus, später keine anspruchsvolle Arbeit zu finden.

Aber nicht nur im materiellen Bereich hat Deutschland Nachholbedarf, sondern auch bei der Zuwendung der Eltern. In keinem anderen Land nehmen sich Eltern so wenig Zeit, mit ihren Kindern zu reden. Nur 42 Prozent der 15-Jährigen gaben an, dass ihre Eltern sich mehrmals in der Woche mit ihnen unterhalten. Besorgniserregend ist nach Angaben von Unicef auch das Risikoverhalten deutscher Jugendlicher. Nirgendwo sonst in den Industriestaaten rauchen so viele Jugendliche wie in Deutschland.

Zwischen den einzelnen Bundesländern gibt es zum Teil enorme Unterschiede. Das geht aus einer vertiefenden Studie über die Lage der Kinder in Deutschland hervor, die der Familiensoziologe Hans Bertram erarbeitet hat. Demnach stehen Baden-Württemberg, Bayern und Hessen an der Spitze. Als bestes ostdeutsches Bundesland kam Sachsen auf Platz fünf. Zu den Schlusslichtern zählen Berlin (Platz 13), Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Bremen. In den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg sind Kinder außerdem am stärksten von relativer Armut bedroht. In Berlin leben etwa elf Prozent der Kinder in Familien, die weniger als 50 Prozent des Berliner Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben.

Als Konsequenz aus der Studie forderte Simonis den Ausbau der frühkindlichen Bildung und der Ganztagsschulen. Diese seien bisher als „Teufelswerk“ betrachtet worden, kritisierte die Unicef-Vorsitzende. Zugleich sprach sie sich für ein gesellschaftliches Umdenken aus: Eltern müssten in die Lage versetzt werden, mehr Zeit für ihre Kinder zu haben. In Skandinavien ist es nach den Worten der früheren Ministerpräsidentin selbstverständlich, dass Eltern rechtzeitig das Büro – oder sogar das Kabinett – verlassen könnten. Bertram mahnte, eine zukunftsorientierte Politik für Kinder dürfe sich nicht nur auf einen Lebensbereich wie die Schulpolitik konzentrieren. „Die Politik muss Kinder in den Mittelpunkt stellen“, forderte Unicef. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen sieht ihre Politik durch den Bericht bestätigt. Deutschland habe in den vergangenen Jahrzehnten notwendige Entwicklungen verschlafen.

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