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Politik: Kern-gesunde Städte

Von Antje Vollmer

Letzten Sonntag beschrieb Wolfgang Schäuble seine Eindrücke aus Moskau und stellte dabei fest, dass auch dort nun die großen, global bekannten Konsumtempel ins Kraut schießen. Selbstverständlich ist den Moskauer Bürgern die Teilhabe am internationalen Warenverkehr zu gönnen. Dennoch sollten wir uns kritisch fragen, was es bedeutet, wenn die neue Zeit sich überall auf der Welt in den immer gleich aussehenden Einkaufszentren abbildet. Was wird bleiben, was droht verloren zu gehen, wenn die wirtschaftliche Globalisierung sich allerorten als immergleiches schnell zusammengeklopftes Konsumparadies auf grüner Wiese manifestiert?

Die Armutsschere, von der Schäuble spricht, hat auch damit zu tun, dass gewachsene soziale und wirtschaftliche Strukturen – etwa historisch gewachsene Stadtquartiere mit kleinen Läden und Familienbetrieben – gegenüber den globalen Strukturen keine Chance mehr haben. Längst ist auch die städtische Struktur als solche bedroht: So ist es kein Zufall, dass jene Megastädte in Asien oder Lateinamerika sich durch eine erschreckende Unübersichtlichkeit auszeichnen und alle gewachsenen Stadtstrukturen schleifen. Ein Stadtkern – jene klassische „BürgerKrone“ von Rathaus, Theater, Oper, Museen, Kirchen, Universität – ist kaum noch zu erkennen oder zerfällt; die Vorstädte fransen aus wie ein „Rührei“ (Hoffman-Axthelm), Ghettos und Slums dehnen sich in die Fläche aus.

Über die Gefährdung der Städte in Zeiten der Globalisierung gibt es unter Städteplanern, Architekten und Künstlern eine intensive Diskussion. Als Gegenmodell zur globalen Megastadt wird das jahrhundertealte Modell der europäischen Stadt wieder entdeckt. Sie steht für die politische und kulturelle Freiheit, die sich das Bürgertum erkämpft hat. In ihr wurde – ganz im Sinne der Aufklärung – die politische Macht demokratisch in das städtische Gesamtensemble eingebunden, Rathaus, Marktplatz, Kirchen, Synagoge und Schulen stehen gleichberechtigt eng beieinander. Demokratisch war die europäische Stadt auch, weil in ihr die Schönheit von Kunst und Kultur für jeden zugänglich war. Und sie ist heute ein Ort der erlebbaren historischen und kulturellen Erinnerung.

Nicht nur in der Fachdebatte lässt sich eine Sehnsucht nach der europäischen Stadt bemerken, auch der internationale Städtetourismus nach Europa – in Städte wie Rom, Prag, Petersburg, Riga, Paris oder Berlin – folgt dieser Spur. Unternehmen begreifen, dass ihre hochqualifizierten Mitarbeiter sich eine Stadtkultur mit Theatern, Programmkinos und guten Schulen wünschen. Kultur wird so zum „Standortfaktor“ – aber auch zur individuellen Wurzel in einer Welt monokultureller Ununterscheidbarkeit. Die Politik sollte dies ernst nehmen und die Exzellenz der europäischen Stadt als kulturelle und soziale Gegenkraft zu einem blinden Globalisierungsprozess begreifen! Nirgendwo ist Europa mehr Europa als hier!

Die Autorin ist Vizepräsidentin des Bundestages und Grüne.

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