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Leeres Klassenzimmer. Die Kinder lernten während des Lockdowns größtenteils zu Hause.

© picture alliance/dpa

Kirsten Kappert-Gonther über die Psyche: „Menschen waren eine Bedrohung“

Die Grünen-Politikerin und Psychiaterin fordert Gesundheitschecks für alle politischen Maßnahmen. Ein Interview.

Klimawandel, Krankheiten, Kriege – die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein. Frau Kappert-Gonther, Sie sind Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Wessen Seele treffen die Krisen besonders?
Wir haben es mit drei großen Krisen zu tun, der Klimakrise, der Pandemie und diesem schrecklichen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Es zehrt an den Seelen aller, das liegt auch an der Kombination dieser Krisen und dem daraus resultierenden Gefühl, der Welt zunehmend ohnmächtiger gegenüberzustehen. Kinder und Jugendliche sind hier besonders belastet.

Warum diese Gruppe?
Erstens haben sie ein anderes Zeitempfinden. Die zweieinhalb zurückliegenden Jahre der Pandemie sind für Menschen wie mich, die ich über 50 bin, ein Zeitraum, der gut zu erfassen ist. Für mich sind es zweieinhalb Jahre meines doch recht langen Lebens.

Aber für viele Kinder sind zweieinhalb Jahre die Hälfte oder ein Drittel ihres bisher gelebten Lebens. Zweitens haben Kinder deutlich weniger Erfahrung als Erwachsene, was das Bewältigen schwerer Lebenssituationen, aber auch den Umgang mit Ohnmachtsempfindungen betrifft.

Ein dritter Faktor ist, dass die Persönlichkeitsentwicklung bei Kindern noch in vollem Gange ist: Wie wichtig sind Familie und Freunde? Was bedeuten Autonomie und Sich-Abgrenzen? Erwachsene haben diesen Erfahrungshintergrund, Kinder können nicht darauf zurückgreifen.

Gerade kleine Kinder können über die Einschränkungen, die sie in der Pandemie erfahren mussten, nicht sprechen. Ebenso wenig über die Gewalt, die sie nun möglicherweise im Fernsehen sehen. Was heißt das für ihre seelische Gesundheit?
Der Bedarf nach Psychotherapie und psychosozialen Hilfen, aber auch nach stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Hilfeangeboten ist bereits jetzt deutlich höher als in früheren Jahren. Wir müssen davon ausgehen, dass die Nachfrage nach psychosozialer Hilfe in Zukunft signifikant steigen wird.

Was wir jetzt sehen, ist nur die Spitze des Eisbergs?
Da kommt noch was, absolut. Zu hoffen, dass wir jetzt einen Peak hätten an seelischer Belastung, und dass dieses Phänomen, wenn die Pandemie vorbei ist, zurückgehen wird, ist ein Trugschluss.

Seelische Wunden zeigen sich in ihrer Gänze oft erst, wenn die Belastungen nachlassen und wir aufatmen, weil uns die Welt wieder sicherer erscheint. Das ist kontraintuitiv, aber es entspricht dem, was wir aus der Forschung zu Traumafolgestörungen wissen.

Ist das – in Coronasprache übersetzt – so etwas wie ein Long-Covid der Psyche?
Nein, denn die Schäden sind ja nicht unbedingt bleibend. Seelische Erkrankungen, Depressionen, Essstörungen – die Wunden, die jetzt gesetzt sind, werden sich in Zukunft ohne Frage noch stärker zeigen.

Das bedeutet aber nicht, dass alle aus der Gruppe der Sechs- bis Siebzehnjährigen, die besonders betroffen sind, dauerhaft psychisch belastet oder krank sein werden: Die Seele ist überraschend resilient.

Welche Fähigkeiten brauchen Kinder und Jugendliche, um ihre Resilienz zu stärken?
Kinder und Jugendliche, die bereits in einer Entwicklungsphase waren, in der sie ihre Ängste, Nöte und Erlebnisse in Worte fassen konnten, hatten es leichter in der Pandemie.

Wenn sie dann noch in familiären Kontexten aufgewachsen waren, wo miteinander zu reden zum Familienleben gehört, dann war das ein Vorteil. So banal es klingt: reden, reden, miteinander reden – das macht den Unterschied.

Wer draußen herumtollen konnte, war im Vorteil.
Wer draußen herumtollen konnte, war im Vorteil.

© picture alliance/dpa / Paul Zinken

Materielle Faktoren spielten eine eher untergeordnete Rolle?
Je mehr Ansprechpersonen Kinder und Jugendliche hatten, denen sie ihre Sorgen, auch ihre Wut und Unsicherheiten mitteilen konnten, umso leichter war es für sie. Wer schon vor der Pandemie über enge und feste Freundschaften verfügte, die auch im digitalen Raum oder über das Telefon aufrecht erhalten werden konnten, war im Vorteil.

Aber, keine Frage: Kinder und Jugendliche, die darüber hinaus mehr Platz zur Verfügung hatten, ein eigenes Zimmer, vielleicht einen Garten, Zugang zu eigenen elektronischen Geräten, waren besser dran. Als stabilisierende Faktoren haben sich daneben Stadtteile mit viel öffentlichem Grün erwiesen, wo Kinder einfach mal rennen und ihre Freunde mit Abstand sehen konnten.

Schwierig dagegen war es, wenn Kinder nur begrenzten Raum und wenig Ansprache hatten. Besonders schlimm ist die Erfahrung von häuslicher Gewalt.

Was heißt das für künftige Pandemien?
Für künftige Pandemien müssen wir nach Möglichkeit die Schulen und Kitas offenhalten, und wir müssen sicherstellen, dass alle Kinder und Jugendlichen auch Ansprechpersonen haben außerhalb ihrer Familien, die darin geschult sind, seelische Nöte von Kindern zu erkennen und den Kindern zugleich ermöglich, früh zu lernen, wie man mit Gefühlen umgeht.

Die Kinder müssen eine Sprache finden, um das auszudrücken, was in ihnen ist. Herauszufinden, wie fühle ich mich eigentlich und das dann auch noch in Worte fassen und kommunizieren zu können, das erfordert Fertigkeiten, die viele gar nicht haben. Und schließlich müssen wir den öffentlichen Raum aufwerten. Wir brauchen viel mehr gute, sichere Begegnungsorte, an denen Kinder und Jugendliche sich autonom treffen können, und die sich nicht nur auf Bushaltestellen beschränken.

Müssen wir zugleich unseren Gesundheitsbegriff überdenken?
Die Weltgesundheitsorganisation hat klargestellt, dass Gesundheit nicht nur körperliches, sondern auch seelisches und soziales Wohlbefinden umfasst. Diesen Begriff teile ich.

Zugleich denke ich, dass wir – als eine Lehre aus der Pandemie – die Frage nach den gesundheitlichen Wirkungen und Nebenwirkungen politischer Entscheidungen deutlich mehr ins Zentrum rücken und insofern den gesundheitspolitischen Blick tatsächlich weiten müssen.

Ich bin der Auffassung, dass wir einen Gesundheitscheck für alle politischen Maßnahmen brauchen: Welche Auswirkungen haben sie für die körperliche und seelische Gesundheit, aber auch für die sozialen Entwicklungschancen einer Person?

Die politische Seite ist die eine, die andere ist die medizinische: Wird die ärztliche Ausbildung diesen Bedarfen gerecht?
Sowohl im Medizinstudium als auch in den fachärztlichen Ausbildungen wünsche ich mir, dass sich der Blick stärker auf die Interaktion von Körper und Seele richtet; dies wird manchmal aus medizinischer Sicht noch recht eindimensional gesehen.

Andererseits teile ich nicht die Auffassung, dass eine Ärztin allein all dies leisten können muss. Deswegen sollten wir ermöglichen – das ist in dem derzeitigen Abrechnungssystem noch überhaupt nicht abgebildet –, dass in den Praxen mehr in multiprofessionellen Teams gearbeitet werden kann.

Epigenetik spielt in der medizinischen Forschung eine zunehmend größere Rolle. Was bedeuten die Erfahrungen, die Jugendliche während der heutigen Krisen machen, für künftige Generationen?
Es gibt eine transgenerationale Weitergabe von Traumatisierung. Aus dem deutschen Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg wissen wir, dass die Kinder, aber auch die Enkel der Kriegskinder die Belastungen der Eltern und Großeltern in sich weitertragen, umso mehr, je weniger über die traumatisierenden Situationen gesprochen wird.

Je stärker Familiengeheimnisse – über Schuld, schuldhafte Verstrickungen, aber auch Scham – verdrängt werden, umso eher werden sie an die nächste Generation weitergegeben.

In der Pandemie ging es weniger um Schuldfragen. Dass das Virus da war, dafür konnte ja niemand etwas?
Die Pandemie war für unser Erleben doch sehr einzigartig, meine ich. Sie war schwer greifbar und verunsichernd, weil das Virus als etwas Unsichtbares daherkam, von dem nicht klar war, wie es sich weiter entwickeln würde.

Bei der Entwicklung der Schutzmaßnahmen mussten alle auf Sicht fahren, denn niemand konnte genau wissen, wie es weiter gehen wird. Dieser Umstand hat bei Kindern, die noch keine Erfahrung damit haben, dass Dinge auch wieder zu Ende gehen können, enorm viel Hoffnungslosigkeit und Zukunftsängste ausgelöst.

Verglichen damit waren die Kriegserfahrungen der vorvorigen Generation sichtbarer. Und was die Schuldfrage betrifft: Kinder mussten in der Pandemie erfahren, dass sie potenziell für einen Risikofaktor für die Großeltern gehalten wurden. Das ist sehr belastend; potenziell waren auch alle anderen Menschen eine Bedrohung für das Individuum.

Andere Menschen waren plötzlich ein vermeintlicher Risikofaktor.
Andere Menschen waren plötzlich ein vermeintlicher Risikofaktor.

© dpa / Fabian Sommer

Was folgt daraus?
Es gibt uns die Aufgabe, eine Sprache zu finden für das, was wir an belastenden Erlebnissen individuell, aber auch kollektiv als Gesellschaft innerhalb dieser Pandemie durchgemacht haben. Das heißt, wir müssen unseren Kindern die Möglichkeit geben, selbst in Worte zu fassen, was sie erlebt haben, aber auch mit den Erwachsenen darüber zu sprechen, wie das für sie war.

Was ist Ihr Eindruck: Lassen die vielen Krisen die Gesellschaft eher zusammenrücken? Oder droht die Spaltung?
Es hat in der Pandemie viel gesellschaftliche Anspannung gegeben, und diese Tendenz zur gesellschaftlichen Spaltung sehen wir aktuell auch beim Krieg gegen die Ukraine. Interessanterweise gibt es eine große Schnittmenge zwischen denjenigen, die gegen die Infektionsschutzmaßnahmen gewettert haben, und denjenigen, die jetzt eine Nähe zu Putin propagieren.

Rechte Parteien und Gruppierungen instrumentalisieren Ängste und nutzen sie zur Mobilisierung. Es gibt eine Gruppe, die offensichtlich unter dem allgemeinen Druck von Belastung eher dazu neigt, sich außerhalb der solidarischen Gesellschaft zu stellen und ein destruktiv-aggressives Verhalten zu entwickeln.

Es besteht die Gefahr, dass unter den aktuellen Drucksituationen gerade Menschen, die oft ausgegrenzt werden, wieder zunehmend aus dem Blick geraten und Ausgrenzung erfahren. Das gilt beispielsweise für die Gruppe der schwer und chronisch psychisch Kranken. Hier gilt es sehr aufmerksam zu sein. Meine Wahrnehmung ist aber, dass die große Mehrheit zusammensteht.

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