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Geht es ums bessere Klima - oder ums Bessersein? Klimaaktivisten wird oft Moralismus vorgeworfen (hier Archivfoto aus Davos mit Luisa Neubau und Greta Thunberg, von rechts)

© Markus Schreiber/AP/dpa

Klima, Feminismus, vegane Ernährung: Philosophie-Professor erklärt das Gute am Gutmenschentum

Wenn Menschen ihre eigene Tugendhaftigkeit zur Schau stellen, werden sie schnell als Gutmenschen abgetan. Dabei funktioniert moralischer Diskurs genau so. Ein Essay.

Neil Levy ist Professor für Philosophie an der Macquarie Universität in Sydney. Von ihm erschien zuletzt „Consciousness and Moral Responsibility“ (2014). Dieser Text erschien zuerst auf aeon.co, einem Online-Magazin für Philosophie und Geisteswissenschaften.

Menschen argumentieren immer wieder moralisch. Wenn sie in der Öffentlichkeit moralische Forderungen aufstellen, werden sie in der angelsächsischen Debatte als „virtue signallers“, also als Tugendprotzer oder Moralapostel diskreditiert. (In der deutschen Debatte taucht an dieser Stelle der Begriff „Gutmensch“ auf, Anm. d. Red.)

Twitter ist voll von solchen Vorwürfen: Die Schauspielerin Jameela Jamil, die sich unter anderem gegen starre Schönheitsideale einsetzt, ist nach Ansicht des britischen Journalisten Piers Morgan eine „erbärmliche Tugendprotzerin“; Klimaaktivisten sind laut dem konservativen Manhattan Institute for Policy Research „Tugendprotzer“; und für den Dänen Bjorn Lomborg, Autor des von Klimaforschern kritisierten Buches „The Skeptical Environmentalist“, fallen Vegetarier in diese Kategorie.

Geht es um ein Thema - oder um Selbstmarketing?

Wie diese Beispiele zeigen, scheint der Vorwurf eher von rechts als von links zu kommen. Wenn man jemanden dafür kritisiert, dass er Tugenden und Moral zur Schau stellt, bezichtigt man ihn der Heuchelei. Der Vorwurf lautet: Die beschuldigte Person gebe vor, moralisch tief betroffen zu sein, während es ihr in Wirklichkeit nur um sie selbst ginge.

Ziel der „Tugendprotzer“ sei es nicht, andere dazu zu bewegen, ihre Einstellungen zu ändern oder gar die Welt, sondern sich selber im allerbesten Licht darzustellen. Der Journalist James Bartholomew (der 2015 fälschlicherweise behauptete, den Begriff „virtue signalling“ erfunden zu haben) formulierte es in der britischen Zeitschrift „The Spectator“ so: Das Gutmenschentum sei von Eitelkeit und Selbstverherrlichung getrieben, nicht von der Sorge um andere.

"Moralische Wichtigtuer"

Die Ironie dieses Vorwurfs liegt darin, dass man, umgekehrt, die Kritik am offensiven Zurschaustellen von Moral wiederum als Fall von offensivem Zurschaustellen von Moral sehen könnte - nur eben für ein anderes Publikum. Im Fokus steht nicht mehr der moralische Standpunkt, sondern die Person, die diesen vorträgt. Letztlich kann der Vorwurf des „virtue signalling“ also dafür genutzt werden, erst gar nicht auf die aufgeworfene moralische Frage eingehen zu müssen.

An dieser Stelle möchte ich aber auf einen anderen Aspekt eingehen. In dem einzigen wissenschaftlichen Werk zu dem Thema (das ich kenne), werfen die Philosophen Justin Tosi and Brandon Warmke den „moralischen Wichtigtuern“ („moral grandstander“, wie sie es nennen) vor, die Funktion eines öffentlichen moralischen Diskurses zu pervertieren.

Zynismus als Reaktion

Ihrer Meinung nach besteht „die zentrale, primäre Funktion“ eines solchen öffentlichen moralischen Diskurses darin, „die moralischen Überzeugungen der Menschen zu verbessern und eine moralische Besserung der Welt voranzutreiben“. Öffentliche Moralpredigten zielen darauf ab, dass Menschen ein moralisches Problem erkennen, dem sie vorher keine Beachtung geschenkt haben und/oder sie dazu zu bewegen, etwas gegen dieses Problem zu tun. Stattdessen, so die These von Tosi und Warmke, stellen sich die Tugendhüter selbst zur Schau, und lenken damit vom Problem ab.

Da wir die Tugendhüter oft auch als ebensolche erkennen, rufen sie bei ihrem Publikum eher Zynismus hervor, statt sie dazu zu bringen, die Tugendhüter toll zu finden. Die Folge sei, dass die übertriebene Betonung von Tugenden den moralischen Diskurs abwerte.

Moralische Diskurse dienen dem Zurschaustellen von Tugenden

Für die Behauptung, dass die primäre und legitimierende Funktion eines moralischen Diskurses darin besteht, menschliche Überzeugungen oder die Welt zu verbessern, liefern Tosi und Warmke keine Belege. Es ist sicher richtig, dass das eine Funktion von moralischen Debatten ist - aber nicht die einzige.

Vielleicht ist es vielmehr gerade das Zurschaustellen von Tugenden die Kernfunktion moralischer Diskurse.

In der Natur ist es ganz normal, gewisse Dinge zur Schau zu stellen. Das Rad eines Pfaus ist aus Sicht der Evolutionsbiologie beispielsweise ein Zeichen für Fitness. Die Biologen nennen das ein „ehrliches Zeichen“, da es kaum nachzuahmen ist.

Die Präsentation der eigenen Stärken ist natürlich

Es braucht viele Ressourcen, ein solches Rad entstehen zu lassen, und umso besser das Signal ist - also je größer und bunter das Rad - desto mehr Ressourcen müssen dafür aufgewendet worden sein. Prellspringen - das Verhalten einiger Tiere, bei dem sie mit allen Beinen steif in die Luft springen - ist ein anderes Beispiel für ein „ehrliches Zeichen“ evolutionärer Fitness.

Die Gazelle, die so springt, demonstriert einem potenziellen Angreifer eindrucksvoll, dass es schwer sein wird, sie zu fangen - was wiederum dazu führen wird, dass der Angreifer vielleicht nach leichterer Beute Ausschau hält. Auch Menschen senden solche Signale aus: Das Tragen eines teuren Anzugs oder eine Rolex-Uhr sind schwer nachahmbare Zeichen des Wohlstands.

Sie signalisieren, dass jemand als Geschäftspartner in Frage kommt - oder eben als passendes Männchen/Weibchen. In der Kognitionswissenschaft der Religion unterscheidet man üblicherweise zwischen zwei Arten von Signalen. Es gibt „teure“ Signale und Signale, die die Glaubwürdigkeit steigern.

Signale können teuer sein

Das Rad eines Pfaus ist ein „teures“ Signal: Beim Herumschleppen verbraucht der Pfau ziemlich viel Energie und will er vor Raubtieren fliehen, ist es im Weg.

Glaubwürdigkeitssteigernde Zeichen sind Verhaltensweisen, die kostspielig wären, wenn sie nicht ehrlich wären: Ein Tier, das einen Eindringling in der Nähe nicht beachtet, signalisiert seinen Artgenossen, das es den Eindringlich für ungefährlich hält.

Religiöser Glaube ist kostspielig

Dass das Tier nicht wegläuft, bestätigt gleichzeitig die „Aufrichtigkeit“ dieses Signals - denn wenn der Eindringling gefährlich wäre, wäre das Signaltier ja selbst bedroht. Viele religiöse Verhaltensweisen können als teure oder glaubwürdigkeitssteigernde Symbole bezeichnet werden.

Zu den kostspieligen Verhaltensweisen zählen beispielsweise das Fasten, die Zahlung des Zehnten an die Kirche sowie der Verzicht auf Sex unter bestimmten Bedingungen. Sowohl im Alltag als auch evolutionär ist dieses Verhalten kostspielig, es reduziert unter anderem die Möglichkeiten, sich fortzupflanzen.

Zurschaustellen als Grundlage von Kooperation

Fasten, der Zölibat oder der Zehnte sind gleichzeitig aber auch Belege für die Echtheit des eigenen Glaubens: Niemand würde die Kosten in Kauf nehmen, wenn er sich nicht auch wirklich etwas davon versprechen würde. Warum aber macht es aus Sicht der Evolutionsbiologie überhaupt Sinn, den eigenen Glauben sichtbar zu machen?

Wahrscheinlich sichern sich Menschen so die Vorteile, die aus der Zusammenarbeit mit anderen entstehen. Kooperation ist oftmals eine riskante Angelegenheit, es besteht die Gefahr, dass jemand die Zusammenarbeit einseitig ausnutzt.

Je komplexer das soziale Gefüge und je einfacher man zwischen verschiedenen sozialen Gruppen wechseln kann, desto höher ist das Risiko: In kleinen Gruppen können Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit besser eingeschätzt werden, in großen Gruppen und bei der Interaktion mit Fremden ist das schwieriger.

Zurschaustellen kann helfen, dieses Dilemma zu überwinden. Eine religiöse Person bezeugt so ihr Bekenntnis zu den Regeln und auch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit anderen Gläubigen. Sie signalisiert die eigene Tugendhaftigkeit. Dieses Signal ist im Großen und Ganzen ein „ehrliches“ Signal.

Präsentation des moralischen Kompasses

Es kann kaum vorgetäuscht werden und die Glaubensgemeinschaft kann die Vertrauenswürdigkeit ihrer Mitglieder gut nachhalten, wenn auch nicht alle anderen. Diese Beobachtung wurde unter anderem als Erklärung dafür herangezogen, warum das Quäkertum in den ersten Jahren der industriellen Revolution so relevant war.

Die Quäker haben einander vertraut. Das lag auch daran, dass alle Mitglieder ihrer Gemeinschaft sich auf einen gemeinsamen ethischen Kodex verpflichteten. Das Zurschaustellen des Glaubens ist also ein Weg, den eigenen moralischen Kompass zu zeigen und sich das Vertrauen und die Kooperationsbereitschaft Gleichgesinnter zu sichern.

Tugenden in einer säkularen Gesellschaft

Jetzt, da Religion in westlichen Gesellschaften eine immer geringere Rolle spielt, ist es wenig verwunderlich, dass andere, säkulare Werte diese Rolle übernehmen. Das Zurschaustellen von Tugenden soll der eigenen Peer-Group zeigen, dass man vertrauenswürdig ist, es soll die eigene Position als „respektabel“ kennzeichnen - um es mit den Worten von Tosi und Warmke zu sagen.

Das ist keine „Perversion“ von Moral, sondern eine der Urfunktionen moralischer Diskurse. Und was ist mit dem Vorwurf der Heuchelei?

Sind Gutmenschen Heuchler?

Dieser Vorwurf hat zwei Spielarten: Es kann damit gemeint sein, dass es der jeweiligen Person nur darum geht, sich im allerbesten Lichte darzustellen - und es ihr nicht um den Klimawandel, das Tierwohl oder etwas anderes geht. Man kann die Motive der Person in Frage stellen.

Die Wissenschaftler Jillian Jordan und David Rand wollten das testen und haben untersucht, ob Menschen ihre Tugendhaftigkeit auch dann zur Schau stellen, wenn sie unbeobachtet sind. Ein Ergebnis der Studie ist, dass die Teilnehmenden die eigene Tugendhaftigkeit umso offensiver gezeigt haben, je mehr Möglichkeit ihnen dazu gegeben wurde: Allerdings wurde das gesamte Experiment anonym durchgeführt, der „öffentliche“ Aufschrei konnte nicht mit einzelnen Teilnehmer in Verbindung gebracht werden.

Auch die Natur betrügt

Daraus lässt sich schließen, dass die Gelegenheit, die eigene Tugendhaftigkeit zu zeigen, zwar durchaus einer der Gründe für „virtue signalling“ ist - aber eben nur einer der Gründe. Die Gefühle dahinter sind echt. Wir zeigen sie gern, aber eben nicht nur, um sie zu zeigen. Die zweite Unterstellung im Vorwurf der Heuchelei ist, dass sich jemand, der seine Tugendhaftigkeit offensiv zur Schau stellt, in Wirklichkeit gar nicht so tugendhaft verhält.

Tatsächlich kommt neben dem „ehrlichen“ auch das „unehrliche“ Zurschaustellen bestimmter Merkmale in der Natur vor. Einige Tiere ahmen die Signale anderer Tiere nach und tun so, als seien sie giftig oder gefährlich. Ein bekanntes Beispiel sind Schwebfliegen, die Wespen zum Verwechseln ähnlich sehen.

Relevanz im moralischen Diskurs

In der Evolutionsbiologie heißt das Mimikry. Es ist daher wahrscheinlich, dass es auch beim Menschen eine Art moralische Mimikry gibt, also ein „unehrliches“ Nachahmen. Nachgeahmte Signale werden aber überhaupt erst wahr- und ernstgenommen, wenn genug andere Zeichen den Eindruck erwecken, das nachgeahmte Signal könnte glaubwürdig sein.

Einige Menschen, die ihre Tugenden zur Schau stellen, sind dabei sicherlich heuchlerisch, die Mehrheit ist es aber vermutlich nicht. Im Großen und Ganzen ist das Hervorheben der eigenen Tugendhaftigkeit also durchaus relevant für den moralischen Diskurs, wir sollten es daher nicht einfach verurteilen.
(Übersetzt von Anna Thewalt und Yannik Achternbosch)

Neil Levy

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