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Russlands Präsident Wladimir Putin kämpft gegen verhältnismäßig niedrige Umfragewerte. .

© AFP/Ewgenia Novozhenina/Pool

Kreml-Kritiker Chodorkowski: Der Verdruss mit dem System Putin

Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski sieht Russland näher an einem Aufstand gegen das System Putin. Eine Begegnung in Berlin.

Glaubt man Michail Chodorkowski, dann gibt es eine Person, die Russlands Präsident Wladimir Putin derzeit echte Sorgen bereitet: Und das ist der frühere Schauspieler und Comedian Wolodymyr Selenski, der seit dem 20. Mai als ukrainischer Präsident amtiert. „Er ist ein riesiges Problem für Russland“, sagte Chodorkowski am Dienstagmorgen in Berlin, als er auf Einladung des „Zentrums Liberale Moderne“ vor Journalisten sprach. Denn er zeige den Menschen in Russland, dass ein demokratischer Machtwechsel tatsächlich möglich ist. Die Ukrainer hätten sich nach fünf Jahren dafür entschieden, einen etablierten Politiker abzuwählen und ihn durch einen Neuling zu ersetzen. Die Bürger in Russland dächten sich nun: „Warum können wir das nicht?“

Chodorkowski befindet sich derzeit in Deutschland, um politische Gespräche zu führen. Am Montag hatte er bereits vor Abgeordneten des Bundestages gesprochen. Der ehemalige Öl-Unternehmer gilt als einer der bekanntesten Kreml-Kritiker. Im Jahr 2003 war Chodorkowski in einem umstrittenen Prozess wegen angeblicher Steuerhinterziehung zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Zehn Jahre später wurde er amnestiert.

Heute setzt er sich mit der von ihm im Jahr 2014 wiederbelebten „Open Russia“-Stiftung und anderen Initiativen für einen politischen Richtungswechsel in Russlands ein. Die persönliche Webseite von Chodorkowski, aber auch die von „Open Russia“ werden derzeit in Russland von der staatlichen Kommunikationsaufsicht Roskomnadsor geblockt.

„Die Russen sind Putin überdrüssig. Genau wie bei Breschnew Anfang der 1980er-Jahre. Das kann man an den ganzen Witzen sehen, die derzeit über Putin kursieren“, sagte Chodorkowski am Dienstag. „Seit sechs Jahren sinkt das Lebensniveau in Russland, auch wenn offizielle Statistiken das manchmal anders darstellen.“

Seit vergangenem Jahr hat Wladimir Putin mit verhältnismäßig niedrigen Umfragewerten zu kämpfen. Bereits kurz nach seiner Wiederwahl im März 2018 trübte sich die Stimmung ein. Nach der Ankündigung einer weitreichenden Rentenreform im Juni 2018 stürzten die Werte förmlich ab. Laut einer Ende Mai 2019 veröffentlichten Umfrage des staatlichen russischen Meinungsforschungsinstituts WZIOM vertrauen nur noch 31,7 Prozent der Russen Putin. Es ist der niedrigste Zustimmungswert seit 2006.

Chodorkowski sagte, er habe im Bundestag versucht, deutschen Abgeordneten das Problem mit der Rentenreform zu erklären. „Wenn man in Deutschland das Rentenalter auf 67 anhebt, dann bleiben den Menschen womöglich noch 15 Jahre Ruhestand. Wenn in Russland das Rentenalter auf 65 angehoben wird, dann bleibt der männlichen Bevölkerung im Schnitt noch ein Jahr, weil die Lebenserwartung bei 66 Jahren liegt. Das empfinden viele als ungerecht.“

Erstmals wird über eine parlamentarische Demokratie als Alternative gesprochen

Andererseits dürfe man den Verdruss mit dem System Putin nicht automatisch gleichsetzen mit dem Streben nach mehr Demokratie. Bisher dominiere die Wahrnehmung: „Der Zar ist schlecht, und man sollte ihn durch einen anderen ersetzen“, sagte Chodorkowski. In Ermangelung einer Alternative zu Putin sei aber in jüngster Zeit zu beobachten, dass erstmals über eine parlamentarische Demokratie als Alternativsystem gesprochen wird.

Russland sei heute insgesamt näher an einem Aufstand gegen das System Putin als früher, glaubt Chodorkowski. Das sehe man auch an den derzeit aufkeimenden Umweltprotesten. Im Norden Russlands protestierten zum Beispiel kürzlich Bewohner einer kleinen Stadt gegen die Verklappung von Müll aus Moskau. Im Frühjahr stoppten wütende Bürger eine geplante Abfüllfabrik für Trinkwasser am Baikalsee. Sie fürchteten negative Auswirkungen auf die Flora und Fauna des weltgrößten Süßwasserreservoirs.

„Bei diesen Umweltprotesten geht es im Grunde aber nicht um die Umwelt“, sagt Chodorkowski. Sie zeugten vielmehr vom Verdruss der Menschen über die Missstände im System.

Das Spannungsverhältnis zwischen empfundener Realität und tatsächlichem politischen Handeln in Russland drückte er in einem Gleichnis aus: „Stellen sie sich vor, sie sind als Geisel zusammen mit 100 anderen Leuten in einem Zimmer gefangen“, so Chodorkowski. „Der Geiselnehmer hat eine Pistole. Wenn sie sich auf ihn werfen, wird er womöglich nicht alle 100 Geiseln töten, womöglich aber sie selbst.“ Die Russen warteten derzeit darauf, dass der Geiselnehmer müde werde.

Bisher jedoch scheinen die repressiven Strukturen im System Putin noch zu funktionieren. Und auch hier kommt wieder Selenski ins Spiel: Denn Chodorkowski schließt nicht aus, dass sich Putin gegen den durch das ukrainische Staatsoberhaupt genährten Wunsch nach einem politischen Wechsel zur Wehr setzen könnte. Auch auf Kosten eines internationalen Konflikts. Zum Beispiel durch ein alt bekanntes Druckmittel: den Gasexporten in die Ukraine. „Dann kann man auch mal den Gashahn zudrehen, gerne auch im Winter. Damit die Menschen sehen, dass Selenski ein schlechter Präsident ist.“

Die Ukraine könne diese Lieferausfälle aus finanziellen Gründen nicht durch Re-Importe ausgleichen. Hier sei auch die deutsche Bundesregierung gefragt. Wenn sie der Ukraine in einer solchen Situation nicht helfe, entstünden daraus Folgeprobleme, die unter Umständen auch auf anderen Länder übergreifen könnten, in denen Russland seinen Einfluss geltend macht: über Moldau bis auf den Balkan. „Und dann muss Deutschland die Probleme tatsächlich lösen. Nur aus einer viel schlechteren Ausgangslage“, sagt Chodorkowski.

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