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Ukrainische Familie auf der Flucht, hier in Przemysl in Polen. Roma, die fliehen, haben es noch schwerer als ihre Landsleute, ob sie bleiben oder sich auf den Weg machen.

© Darrin Zammit Lupi/Reuters

Krieg in der Ukraine: "Die Roma leiden doppelt und dreifach"

Der Bundesbeauftragte für Sinti und Roma hat die Ukraine besucht. Die Lage der Minderheit nennt er "schockierend" - und mahnt auch Richtung Deutschland.

Der Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung  Mehmet Daimagüler ist tief besorgt über die Lage der Roma in der Ukraine. Die Minderheit sei “doppelt und dreifach vom Gräuel dieses Kriegs betroffen”, sagte Daimagüler nach einem Besuch in der Ukraine.  Das gilt nach seinen Worten sowohl für die, die fliehen, als auch für die, die bleiben oder bleiben müssen. Sie hätten praktisch keinen Zugang zu Hilfen, bekämen etwa Nahrung als letzte oder gar nicht. “Auf jeder Station ihrer Flucht werden sie schlechter behandelt als andere Flüchtende.” Diese Erkenntnis habe sich wie ein roter Faden durch alle Begegnungen gezogen, die er selbst, Daniel Strauß vom Bundesverband der Sinti und Roma und der deutsche Grünen-Abgeordnete im Europäischen Parlament, Romeo Franz dort gehabt hätten. Franz gehört wie Strauß selbst der Minderheit an.

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Franz nannte das Ausmaß der Benachteiligung von Roma in der Ukraine “erschreckend”, ihre Lebenserwartung sei “dramatisch niedriger” als die der übrigen Bevölkerung. Besonders erschüttert zeigten sich alle drei von den Verhältnissen in einem Lager in der Nähe von Lwiw – es ist eines von zwölf im Land -, wo etwa 150 Menschen ohne irgendeine Form von Infrastruktur oder sanitären Anlagen im Wald hausen müssen.

Rassismus hindert bereits Kinder am Besuch von Regelschulen

Und dies nicht erst seit dem Krieg. Lediglich 30 Prozent der zirka 400.000 romanessprachigen Menschen in der Ukraine lebten mitten in der Mehrheitsgesellschaft und nicht ghettoisiert und von ihr abgeschieden. Dies sei allerdings oft nur um den Preis möglich, dass sie ihre Zugehörigkeit zur Minderheit verleugnen. Roma-Siedlungen seien schlecht bis unversorgt, es habe dort zum Beispiel keine Angebote gegeben, sich gegen das Corona-Virus impfen zu lassen. Bisher hätten sich die Communities selbst geholfen, so Daimagüler, aber durch den Krieg gebe es diese Communities nicht mehr.

Auf staatlicher Seite werde der Handlungsbedarf dagegen nicht immer gesehen, ergänzte Daniel Strauß von der Bundesvereinigung der Sinti und Roma. So habe eine der Gesprächspartner:innen, die für ethnische Politik und Gewissensfreiheit zuständig ist, die Probleme der Roma “eher in der Verantwortung der Minderheit verortet”. Daimagüler wurde deutlicher: “Einige Gespräche waren schon schockierend.” Auf die Frage, warum Kinder in der Schule segregiert würden, habe man die Antwort bekommen, es gebe Ärger mit andern Eltern, weil die Romakinder sich eben nicht waschen würden. “Ein starkes Stück und Victim Blaming”, so Daimagüler, erst recht, wenn man gerade kurz zuvor in Elendsvierteln unterwegs gewesen sei, in denen Wasserversorgung und Kanalisation komplett fehlten. Diese Perspektive auf Roma sei allerdings “nicht nur ein ukrainisches Problem”.

Es gehe “nicht um Ukraine-Bashing”, sagte auch Romeo Franz. Vorurteile gegen Sinti und Roma, Antiziganismus, gebe es überall in Europa. Die Ukraine, die zu Europa gehöre und jetzt die Chance bekomme, “ins europäische Haus einzuziehen”, habe aber nun auch die Möglichkeit, zuvor “in allen Bereichen glaubwürdig ihre Segregationspolitik aufzugeben” und damit zum Modell für andere EU-Länder zu werden.

Beauftragter: Die NS-Verfolgung bestimmt Leben von Roma noch heute 

Hintergrund dieser Politik ist nach Erkenntnissen von Daimagüler, Strauß und Franz wohl auch, dass viele Roma, die sich als Ukrainer:innen fühlten und seit Generationen dort lebten, nicht die Staatsbürgerschaft haben – was schon zu Sowjetzeiten so gewesen sei, sich aber in die Zeit nach der Unabhängigkeit der Ukraine fortgesetzt habe. Auch als nationale Minderheit sind sie nicht anerkannt. 

Der Antiziganismus-Beauftragte verwies auch auf die deutsche Verantwortung: Die aktuelle Lage der ukrainischen Roma habe bis heute sehr stark mit der NS-Besetzung der Ukraine zu tun. Vor dem Überfall der deutschen Truppen hätten sich viele einen bescheidenen Wohlstand aufbauen können, dann wurden sie Opfer von Krieg und der rassistischen Vernichtungspolitik der deutschen Besatzer, vertrieben und umgebracht. Die wenigen Überlebenden seien teils umgesiedelt worden, die zurückkehrten, hätten vor dem Nichts gestanden, ihre Häuser und Höfe von Nicht-Roma bewohnt gefunden. “Diese Vergangenheit bestimmt die Lage der Roma in der Ukraine bis heute massiv. Da sind wir Deutsche in der Pflicht” sagte Daimagüler. Man habe Überlebende des Holocausts getroffen, so Strauß, die jetzt zum zweiten Mal Krieg erlebten und flüchten müssen. 

Daimagüler erwähnte auch antiziganistische Vorfälle gegen geflüchtete Roma in Deutschland seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine. Es habe Zwischenfälle an Bahnhöfen gegeben, wo sie Züge verlassen mussten, teils von uniformierten Polizisten begleitet. Daran sei nicht nur die Bahn schuld, aber: “Es ist unerträglich, wenn die Nachfahren derer, die vor zwei Generationen in Waggons in die Vernichtungslager gefahren wurden, heute in der Deutschen Bahn rassistisch angegangen werden.” 

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