
© deagreez - stock.adobe.com
Länger gezahlt, früher in Rente?: „Bas’ Vorschlag ist ökonomisch betrachtet Unfug“
Ministerin Bas regt an, das Renteneintrittsalter an die Beitragsjahre zu koppeln. Vor allem Akademiker würden später in Rente gehen als andere. Wie ließe sich das umsetzen – und wäre es fair?
Stand:
Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) macht in Sachen Rente eine neue Gerechtigkeitsdebatte auf: Sie sprach sich am Sonntag im „Bericht aus Berlin“ dafür aus, den Zeitpunkt des Renteneintritts davon abhängig zu machen, wie viele Jahre jemand Beiträge in die Rentenkasse eingezahlt hat.
„Grundsätzlich finde ich dieses System spannend und auch gerechter“, sagte sie in der ARD-Sendung. Damit unterstützt sie einen Vorschlag, den der Ökonom Jens Südekum in der „Bild am Sonntag“ gemacht hatte, ein Berater von Finanzminister Lars Klingbeil (SPD).
Worum geht es?
Höhere Einkommen gehen mit einer höheren Lebenserwartung und besserer psychischer und physischer Gesundheit einher, wie beispielsweise ein Papier des Wirtschaftsforschungsinstituts DIW Berlin aus dem Jahr 2024 zeigt. Der Zusammenhang gelte besonders stark für Männer, aber auch für Frauen.
So werde das Äquivalenzprinzip unterlaufen, das besagt, dass in der Rentenversicherung jedem eingezahlten Euro die gleiche Leistung gegenüberstehen soll. Denn bei Menschen mit niedrigerem Einkommen ist zu erwarten, dass sie früher sterben – also weniger lange ihre Rente beziehen.
Was schlägt die Ministerin vor?
Bas erklärte im „Bericht aus Berlin“, es gebe zwei unterschiedliche Modelle. Man könne das Renteneintrittsalter danach bestimmen, wer welche Lebenserwartung habe, oder danach, wer eine bestimmte Zahl von Jahren eingezahlt habe.
Derzeit spielt es keine Rolle, wie hoch die statistische Lebenserwartung des Einzelnen ist. Ein kettenrauchender, übergewichtiger Herzkranker und ein sportlicher Nichtraucher bekommen die gleiche Summe, wenn sie gleich viele Rentenpunkte haben. Im ersten Fall wird – nüchtern versicherungsmathematisch gesprochen – womöglich die Rentenkasse das vorteilhaftere Geschäft machen, im zweiten Fall der Versicherte.
Wäre der Vorschlag gerecht?
Jochen Pimpertz, Leiter des Themenclusters „Staat, Steuern und Soziale Sicherung“ am Wirtschaftsforschungsinstitut IW Köln, sagt, aus Bas’ Idee spreche ein grundsätzliches Missverständnis, was Aufgabe und Aufbau des Rentensystems betreffe. „Wer später ins Berufsleben einsteigt, hat weniger Jahre zur Verfügung, in denen er Beiträge einzahlt. Das bildet das System eins zu eins ab, denn die Höhe der Rente hängt direkt von den eingezahlten Beiträgen ab.“
Mit anderen Worten: Wer länger einzahlt, wird schon heute vom System belohnt. Aber eben nicht durch ein früheres Renteneintrittsalter, sondern durch eine höhere Rente. Pimpertz nennt Zahlen der Deutschen Rentenversicherung: Demnach bekamen besonders langjährig Versicherte mit mindestens 45 Versicherungsjahren im Jahr 2024 im Schnitt 340 Euro mehr Altersrente als Versicherte mit 35 bis 44 Versicherungsjahren.
Für Umverteilung ist nicht die Rentenkasse da, sondern das Steuersystem.
„Bas’ Vorschlag ist ökonomisch betrachtet Unfug“, sagt der Wissenschaftler. „Die Ministerin adressiert ein vermeintliches Gerechtigkeitsproblem, das sich in der Rentenversicherung gar nicht lösen lässt.“ Der Vorschlag bewirke, in klassischen Berufsbiografien gesprochen, eine Umverteilung zwischen Akademikern und Arbeitern, also innerhalb einer Versichertenkohorte.

© IMAGO/Nico Herbertz/IMAGO/Herbertz / Nico Herbertz
Das große Problem der Rentenkasse sei aber der demografische Wandel, also die Frage, wie Lasten zwischen verschiedenen Versichertenkohorten verteilt würden. „In der Schule würde man sagen: Thema verfehlt.“ Die Rentenkasse sei für „Umverteilungsfantasien“ schlicht der falsche Ort.
Lässt sich so rechnen wie von Bas angeregt?
Einen verfehlten Versuch, Umverteilung zu betreiben, sieht auch Joachim Ragnitz, Renten-Experte des Ifo-Instituts in Dresden. „Für Umverteilung ist nicht die Rentenkasse da, sondern das Steuersystem“, sagt er.
Das Problem an Bas’ Vorschlag ist Ragnitz’ Meinung nach, „dass dann die Auszahlungen über die Restlebenszeit bei denen, die nach 45 Beitragsjahren früh in Rente gehen, tendenziell höher sind als bei jenen, die später in Rente gehen. Man müsste also die monatliche Rentenhöhe an die verbleibende Lebenserwartung koppeln“ – zumindest, wenn die Idee nicht allein der Umverteilung dienen solle.
Das Argument, wer länger gearbeitet habe, habe eine niedrigere Lebenserwartung, appelliere ans Gerechtigkeitsgefühl. „Aber diese Zusammenhänge sind bei Weitem nicht so schlicht, wie Bas‘ Vorschlag es suggeriert.“
Wer 45 Jahre als gelernte Kraft ohne akademische Bildung im Büro gearbeitet habe, könne durchaus bei bester Gesundheit und mit hoher Rest-Lebenserwartung in den Ruhestand eintreten. „Was macht man zum Beispiel mit Rauchern, was folgt aus der Tatsache, dass Frauen statistisch länger leben als Männer?“ Bas’ Vorschlag suggeriere, es lasse sich mit einfachen Mitteln Gerechtigkeit herstellen. „Das ist aber nicht der Fall.“
Von wem kommt Unterstützung?
Für diskussionswürdig hält den Vorstoß hingegen Peter Haan, Leiter der Abteilung Staat am DIW Berlin und Mitautor des Papiers zur Lebenserwartung. Er hofft, durch die Idee könne Bewegung in die festgefahrene Debatte um das Renteneintrittsalter kommen.
Auch hält er den Vorstoß nicht unbedingt für systemfremd. Schließlich gebe es schon heute von der abschlagsfreien Rente nach 45 Versicherungsjahren bis zur Grundrente verschiedene Rentenmodelle, für die die Zahl der Beitragsjahre eine Rolle spiele.
Es sei also durchaus denkbar, eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters von der Beitragszeit abhängig zu machen. „Die zentrale Frage dabei ist, wie Beitragszeiten definiert werden, besonders wie Zeiten der Erwerbsunterbrechung wegen Kindererziehung oder Pflege berücksichtigt werden.“
Was könnte für Menschen in körperlich harten Berufen getan werden?
Ragnitz sieht für die Politik die Option, die Erwerbsminderungsrenten zu verbessern und für mehr Menschen zugänglich zu machen. „Da kann man gezielt die Menschen erreichen, die hart geschuftet haben.“
Den Vorschlag der Ministerin hält er hingegen für einen „durchsichtigen Trick“, um die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren (im Volksmund: „Rente mit 63“) über einen Umweg zu retten. Die steht in der Kritik, weil sie dem Arbeitsmarkt Fachkräfte entzieht.
Was ist bei Lücken in der Erwerbsbiografie?
IW-Ökonom Pimpertz weist darauf hin, dass mittlerweile sehr viele Menschen unterbrochene Erwerbsbiografien hätten, auch freiwillig. An diesem Phänomen gehe der Vorschlag der Ministerin vorbei. „Was machen Sie mit jemandem, der als Facharbeiter einsteigt, dann aber seine Erwerbsarbeit unterbricht, um nochmal zu studieren? Was ist mit jemandem, der zwischendurch fünf Jahre aus dem Beruf aussteigt, um seine Mutter zu pflegen?“
Auch umgekehrt sieht er Schwierigkeiten: „Was ist, wenn jemand zwar 45 Beitragsjahre hat, aber immer nur fünf Stunden pro Woche gearbeitet hat: Ist ein früherer Renteneintritt dann fair, weil das Erwerbs- und Renteneinkommen deshalb niedriger ist?“
Pimpertz sieht ein grundlegendes Missverständnis: „Die Rentenkasse ist nicht dazu da, für jeden ohne Prüfung erwerbsbiografischer Voraussetzungen eine auskömmliche Altersversorgung zu organisieren. Sondern sie soll schlicht und einfach reflektieren, welche Erwerbsbiografie geleistet worden ist, und das leistet das System auch.“
Den Vorstoß der Ministerin hält er auch politisch für verfehlt: „Angeblich soll die Rentenkommission ohne Vorfestlegungen arbeiten. Insofern rate ich von offensiven Vorstößen seitens der Bundesregierung ab.“
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid:
- false