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Leben mit dem Sterben: Mein Herz hüpft vor Freude, wenn die Haustür schlägt

Auch am Ende gibt es das noch: das Glück. Doch die Knopfdruck-Gesellschaft versucht, den Tod zu beherrschen und zersetzt so die Selbstachtung. Gegenrede eines Sterbenden.

Ein Freund, den ich allmorgendlich im Schwimmbad traf, empfahl Massagen, als ich ihm von meinen zunehmenden Wadenkrämpfen erzählte. Es folgten Stolpereien ohne Grund. Ich fiel hin. Muskelspiele, die unter die Haut gingen, Faszikulationen bildeten die nächste Etappe. Das war im Jahr 2008.

Im Spätherbst diagnostizierte am Potsdamer Platz in Berlin ein Neurologe, der aus der Nachbargemeinde – ein Zufall – meines westfälischen Heimatortes kam, ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) und eine Lebenserwartung von drei bis fünf Jahren. Eine Freundin bahnte sich noch am selben Tag den Weg zu den ALS-Experten von der Charité. Am Abend fielen die entscheidenden Worte meiner Frau: „Das stehen wir zusammen durch.“ Worte von optimistischem Trost, für die ich meiner Frau ewig dankbar bin. Schwere und schöne Zeiten lagen vor uns, eine Herausforderung.

Die Diagnose ALS bekam ich 2008

Ich war schon ein später Vater. Nun wurde ich auch ein später Ehemann. Meine Frau machte mir einen Heiratsantrag, und Ende des Jahres 2009 schlossen wir den Bund der Ehe … Bis dass der Tod uns scheidet. Der Rollator hatte bereits den Handstock abgelöst.

Ich gehöre zu einer Generation, die es in den Sog von ’68 zog. Der Selbstismus dieser „Bewegung“ fiel bei uns auf fruchtbaren Boden. Wir forderten Selbstbestimmung statt autoritärer Fremdbestimmung, waren für Selbstverwirklichung (und übersahen, dass sich Nazi-Schergen einst auch selbst verwirklichten) und kämpften für ein selbst verwaltetes Jugendzentrum. Sicher, das Haus Deutschland musste durchlüftet werden. Aber vom Selbstismus ist es nur ein kurzer Weg zur Selbstermächtigung (die RAF war der extremste Ausdruck dieser Selbstermächtigung und endete in zahlreichen Morden und Selbstmorden).

Als '68er erfanden und lebten wir den Selbstismus

Hedonistische Strömungen kamen hinzu, durchdrungen von einer ungeduldigen Portion Sofortismus. Wir wollen alles, aber subito! „Wer zwei Mal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“ „Mein Bauch gehört mir!“ Mit diesem Verschwinden an Verbindungen, verschwinden auch die Verbindlichkeiten. Die Selbstmonadisierung – beziehungslose und seelenlose Teilchen im Universum – löste einen beispiellosen Individualisierungsschub aus mit Folgen, Defamiliarismus, Single- und Patchworkkultur, und vor allem bereitete es den Wandel der Mentalitäten auf das digitale Zeitalter vor, der Mensch als Alleinherrscher über sich selbst, die Glücksverheißung per Knopfdruck. Heute gilt alles als planbar und machbar, Leben, Liebe, Geburt und Tod, künstliche Befruchtung, Präimplantationsdiagnostik, Social Freezing und die falsche Hoffnung, seinem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen.

Vom Selbstismus bis zur Selbstermächtigung ist es ein kurzer Weg

Vielleicht ist das der Preis der Säkularisierung, Menschenwürde und Schicksal zu trennen? Sein Schicksal annehmen und gestalten, ist nicht nach dem Geschmack der Selbstbestimmer. Den Selbstmord eines Kranken feiern sie euphemistisch als Freitod. Ich bin weit davon entfernt, über jeden Akt der Selbsttötung den Stab zu brechen, auch das gehört zur Freiheit, aber ich glaube fest daran, dass ein solcher verzweifelter Akt die Sozialität der Gesellschaft infrage stellt.

Wie viel Aggression steckt in einem Pistolenschuss gegen sich selbst, auch eines Kranken, gegen das heimische Umfeld? Wollen wir, dass die Dystopie einer suizidalen Gemeinschaft, in der die gewaltsame Beseitigung des Lebens, unter Beteiligung von Ärzten als Todesboten, als normal hingenommen wird? Ist die Selbsttötung mit der Menschenwürde vereinbar? Schon wird die Frage aufgeworfen, ob Lebensmüden nicht das gleiche Recht eingeräumt werden muss wie Alten und Kranken? Nirgendwo steht geschrieben, dass es ein Recht auf Vermögen, auf Schönheit und vor allem Gesundheit gibt. Das Leben ist kein und, wie Edo Reents in der „F.A.Z.“ hinzufügte, genauso wenig wie das Sterben ein Wunschkonzert.

Den Selbstmord eines Kranken feiern wir

Die Lebendigkeit des Menschen wird nicht prinzipiell durch eine schwerwiegende Krankheit infrage gestellt. Auf Hilfe, aufeinander angewiesen sein, ist keine Schande. Der eine trage des anderen Last. Noch nennen es viele Nächstenliebe oder Solidarität. Der Mensch ist fragil, leicht verletzbar, ein Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang ist meist menschenunwürdiger als der natürliche Tod am Lebensende. Doch sind wir ihm hilflos ausgeliefert. Unterwegs zu den Todesfilialen in der Schweiz kann uns ein tödliches Unglück ereilen. Der Tod gehört niemandem, schrieb mir ein jugendlicher Freund. Der Verfügbarkeit des Menschen ist der Tod entzogen, unabwendbar, unausweichlich. Die Knopfdruck-Gesellschaft will damit Schluss machen.

Man wird der Unbarmherzigkeit geziehen, wenn man den Erlösungsstrategien des „schönen Todes“ eine Absage erteilt. Die Euthanasie ist keine Erfindung der Nazis. „Ich klage an“ heißt ihr Film über zwei unheilbar Kranke, die eine, an MS erkrankt, verlangt den Tod, der andere, nach einer Hirnhautentzündung gelähmt und geistig behindert, wird zum Abschuss freigegeben. Barmherzig soll die Vernichtung von „unwertem Leben“ sein. Heute gilt der beschämende Satz: „Ich möchte niemandem zur Last fallen.“

Wir sollten die Kranken wie einen Schatz behandeln

Das schlechte Gewissen, der Allgemeinheit oder der Familie zu Last zu werden, das Einfallstor der vermeintlichen Selbstbestimmung, geht einher mit einer Zersetzung des Lebenswillens und der Selbstachtung. Über dem unheilbar Kranken schwebt ein Fallbeil.

Dabei ist zu wünschen, dass er wie ein Schatz behandelt wird, nicht nur wegen seines Reichtums an Erfahrungen, sondern als Resonanzraum für ungewöhnliche Perspektiven. Einsam, dösend dahindämmernd in einem Pflegeheim stärkt nicht die Lebensgeister. Die Gesellschaft soll Lebenssinn stiften, Lebenshilfe statt Sterbehilfe, Ehrenamt und Patenschaften. An dieser Stelle muss man dafür dankbar sein.

Die Politik bemüht sich um einen Ausbau von Palliativ- und Hospizstrukturen. Niemand darf abgewiesen werden. Unzureichend ist die Unterstützung für die Familien, die nach wie vor die meisten Angehörigen pflegen.

Mich tragen meine Familie und ein großer Verwandten- und Freundeskreis sowie eine freundliche Pflege. Inzwischen bin ich ans Bett gefesselt, wahlweise an den Rollstuhl. Nach einem Luftröhrenschnitt bin ich sprachlos, die Hilfsmittel Sprachcomputer, Buchstabentafel und Kopfklingel sind anstrengend und erfordern viel Geduld. Ich werde künstlich beatmet und werde durch eine Sonde ernährt, pürierte Biokost und manchmal Bier und Champagner (zu wenig). Autonom sind nur meine Gedanken und Gefühle, Momente des Leids und des Glücks.

Mit wie viel Demut, Gelassenheit und Reife erwarten wir den Tod?

Ich bewundere die Haltung meiner Mutter, die im vergangenen Jahr als rüstige Urgroßmutter ihren 100. Geburtstag feierte. Gelernt habe ich auch, dass Kranke eine Verantwortung tragen. Wenn das Leben ein Abschied von der Kindheit ist, dann wird es gelebt auf einen Punkt hin, mit wie viel Demut, Gelassenheit und Reife erwarten wir den Tod?

Mein Herz hüpft vor Freude und Beruhigung, wenn ich die Haustür schlagen höre und die Schritte meiner Frau oder meines Sohnes. Nun habe ich die Prognose des Arztes mehr als ein Jahr schon überlebt. Ich bete zu Gott, dass er mir genügend Zeit gibt, das Zeitliche zu segnen.

Benedict Maria Mülder

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