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Merz, Bas und der „Bullshit“: Wer hat Recht in Sachen Sozialstaat?
Das System muss radikal einfacher werden, sagt Ökonom Andreas Peichl angesichts von Bürgergeld-Bescheiden mit mehr als 200 Seiten. Der Wirtschaftsweise Achim Truger hält Merz’ Aussage für zu pauschal.
Stand:
Der eine, seines Zeichens Kanzler, hält den Sozialstaat in seiner jetzigen Form für nicht mehr finanzierbar. Die andere, ihres Zeichens Arbeitsministerin, hält das für „Bullshit“. Wer hat die besseren Argumente auf der eigenen Seite, Friedrich Merz oder Bärbel Bas?
Die Summe aller sozialen Leistungen, von der Gesundheitsversorgung bis zum Bürgergeld, lag in Deutschland im Jahr 2024 bei rund 1345 Milliarden Euro. Das waren 31,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Diese sogenannte Sozialleistungsquote war in den Corona-Jahren stark angestiegen, weil der Staat viel abfedern musste. Der Wert ist seitdem wieder gesunken, liegt aber immer noch rund zwei Prozentpunkte über dem Vor-Pandemie-Niveau.
Wer dauerhaft so viel Geld für den Sozialstaat ausgeben will, muss entweder auf anderes verzichten oder Steuern erhöhen.
„Das klingt nicht nach viel, aber diese zwei Prozentpunkte entsprechen mehr als 90 Milliarden Euro“, sagt Andreas Peichl, Professor für Volkswirtschaftslehre und Experte für die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme.
„Weder Friedrich Merz noch Bärbel Bas haben objektiv als einzige Recht. Sondern die Sache ist eine Frage der politischen Prioritäten: Wer dauerhaft so viel Geld für den Sozialstaat ausgeben will, muss entweder auf anderes verzichten oder Steuern erhöhen.“ Politiker würden leider dazu neigen, mehr Geld in ein System zu geben, statt Prioritäten zu setzen und auch einmal eine Leistung zu streichen.
Mehr als 200 Seiten Bürgergeld-Bescheid
Aus Peichls Sicht ist der Sozialstaat bei weitem zu kompliziert und ineffizient. So würden im Bürgergeld-System die Verwaltungskosten bei 20 bis 30 Prozent der ausgezahlten Leistungen liegen. „So ein Bürgergeld-Bescheid kann mehr als 200 Seiten umfassen, wenn zum Beispiel jemand schwankendes Einkommen hat und diverse Sonderbedarfe vorliegen“, sagt der Experte.
Für jeden Schulausflug müsse ein Zuschuss beantragt und abgerechnet werden, „das alles dauert wahnsinnig lange. Genau diese Zeit fehlt den Mitarbeitern im Jobcenter, um die 2,5 Millionen Langzeitarbeitslose zu qualifizieren und in Jobs zu vermitteln.“
Peichl schildert als modellhaftes Beispiel den Fall eines Elternpaares mit zwei Kindern in München, das 3500 Euro selbst verdient. Diese Familie bekomme Wohngeld und Kinderzuschlag, also rund 1200 Euro Transferleistungen von zwei verschiedenen Ämtern, was hohe Verwaltungskosten verursache. Gleichzeitig zahle sie um die 800 Euro Steuern, was auch Verwaltungskosten nach sich ziehe.
„Durch das Prinzip ,linke Tasche, rechte Tasche’ geht Geld verloren“, sagt Peichl. Es gebe in Deutschland mehr als 500 Sozialleistungen, das Sozialgesetzbuch sei mehr als 2000 Seiten dick, dazu kämen weitere Gesetze. „Dieses ganze System muss radikal vereinfacht und es müssen Leistungen zusammengelegt werden.“
Die Aussage, der Sozialstaat sei nicht mehr finanzierbar, halte ich für zu pauschal.
Der Sozialstaat habe durchaus ein Effizienzproblem, sagt auch der Ökonom Achim Truger, Mitglied des Rats der Wirtschaftsweisen. Plumpes Kürzen sei aber noch keine Reform, sondern es müsse um die Frage gehen, wie das System besser gemacht werden könne.
„Die Aussage, der Sozialstaat sei nicht mehr finanzierbar, halte ich für zu pauschal“, sagt Truger. „So eine Kürzungsdebatte kann in Zeiten, in denen die Konjunktur auf der Kippe steht, Menschen massiv verunsichern und am Ende die Stimmung zum Kippen bringen.“
Auch Truger weist darauf hin, dass Politik am Ende immer eine Frage der Prioritäten ist – allerdings mit anderer Schlussfolgerung. „Für die Senkung der Mehrwertsteuer in der Gastronomie sind um die vier Milliarden Euro pro Jahr da. Warum kann dann nicht derselbe Betrag weiterhin in die Sozialversicherungssysteme fließen?“, fragt er.
Genau das wird Schwarz-Rot an diesem Mittwoch im Koalitionsausschuss zu besprechen haben. Angesichts leerer Kassen ist für den Staat bei jedem Euro die Frage, wo er am besten aufgehoben ist.
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