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Türkei: Militär verliert an Macht und Ansehen

Das türkische Militär ist geschwächt – die Rolle des türkischen Premiers könnte das weiter stärken. Das birgt auch Chancen für die Bewerbung um den EU-Beitritt

In der Türkei hat die Armee innerhalb weniger Monate und insbesondere in den vergangenen Tagen einen so beträchtlichen Verlust an Ansehen und Autorität erlitten, dass ihre Position als unumstrittener Oberaufseher über Politik und Staat nachhaltig erschüttert ist. Diese Entwicklung birgt Chancen für das EU-Bewerberland, aber auch Herausforderungen. Unter anderem muss die Erdogan-Regierung jetzt zeigen, dass sie die Türkei nicht aus der Armee-Vormundschaft geradewegs in die AKP-Vormundschaft führen will, wie Kritiker des Premiers das befürchten.

In Ankara sind die Generäle mit dem Versuch gescheitert, mehrere von ihnen selbst ausgesuchte Offiziere mit zweifelhaftem Ruf in Schlüsselpositionen der Streitkräfte zu hieven. Dass Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül die Soldaten in die Schranken wiesen, war ein Akt der Befreiung der Politik, die sich bisher nicht an solche im Westen selbstverständliche Dinge herangewagt hatte.

Größtenteils haben sich die Militärs die Schlappe selbst zuzuschreiben. Sie dachten sich nichts dabei, die Beförderung von Offizieren vorzuschlagen, gegen die ein Strafverfahren läuft oder die von der Staatsanwaltschaft einbestellt wurden. Auch bei diversen Putschvorwürfen der vergangenen Monate ließen sich die Generäle von ihrer Arroganz blenden. Sie taten alle Vorwürfe als Fälschungen und Schmutzkampagne ab, nur um später einräumen zu müssen, dass die zitierten Dokumente doch echt waren. Hinzu traten Pannen im Kampf gegen die PKK-Kurdenrebellen. Eine Institution, deren politische Macht sich nicht zuletzt auf ihr hohes öffentliches Ansehen stützt, kann so etwas nicht unbeschadet überstehen.

Das schmälert jedoch nicht die Leistung von Erdogan und Gül. Türkische Politiker brauchen Mut, um den Generälen die Stirn zu bieten. Es ist kein Zufall, dass sich Erdogan erst nach fast acht Jahren Regierungszeit seiner Partei AKP stark genug fühlte, Beförderungsvorschläge der Militärs abzulehnen.

Einige Kommentatoren in der Türkei sehen die Beförderungskrise als Beginn einer neuen Ära in einem Land, in dem die Politik bisher stets im Schatten der Generäle stand. Fest steht, dass die Militärs nicht mehr schalten und walten können wie bisher, was auch von der EU als positiver Schritt gewertet werden dürfte. Die große Frage ist nun, wie sich der Machtzuwachs der Politik zulasten der Armee auswirken wird.

In der Türkei, in der in den letzten 50 Jahren vier Regierungen von den Militärs gestürzt wurden, gibt es immer die Gefahr eines Rückschlags, das Risiko, dass einige in der Armee einen Staatsstreich versuchen. Allerdings könnten Putschisten heutzutage nicht mehr mit großer öffentlicher Unterstützung rechnen; selbst beinharte AKP-Gegner lehnen einen Putsch ab.

Wichtiger ist deshalb, was die Politiker aus der neuen Lage machen werden, allen voran Erdogan selbst. Dem Premier wird vorgeworfen, alle Macht im Staate an sich reißen zu wollen. Die Schwächung der Armee, so das Argument der Erdogan-Gegner, bringe ihn noch näher an dieses Ziel. Der Vorwurf kommt zwar vor allem von jenen, die wie die Militärs selbst demokratische Reformen aus Angst vor einem eigenen Machtverlust ablehnen. Doch die Intoleranz, die Erdogan und die AKP dann und wann an den Tag legen, sowie eine wachsende Ämterpatronage sind unübersehbar.

Das beste Mittel gegen die zunehmende Selbstherrlichkeit einer Regierungspartei ist aber nicht die Armee, auch wenn das einige Erdogan-Kritiker nach Jahrzehnten der Militärmacht glauben mögen. Die Opposition kann und muss die Regierung im Parlament jagen. Justiz, Presse und Zivilgesellschaft bilden ebenfalls Gegengewichte. Und dann wäre da noch das ultimative Druckmittel: die Wahlurne. Wenn das Land aus der Schlappe für die Generäle die Lehre zieht, Erdogan und der AKP künftig mithilfe dieser zivilen Instrumente auf die Finger zu schauen, wird die Türkei einen großen Fortschritt erzielt und ganz nebenbei auch ihre EU-Chancen beträchtlich verbessert haben.

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