
© dpa/Sebastian Kahnert
Mit Mut gegen die Wut: Die Gesellschaft braucht jetzt nicht schärfere Gesetze, sondern offene Gespräche
Nicht erst seit dem Anschlag von Magdeburg wird deutlich, wie groß das Unsicherheitsgefühl vieler ist. Um Vertrauen zurückzugewinnen, muss die Politik auf direkte Begegnungen setzen.

Stand:
Die Wirklichkeit – ausgerechnet zu Weihnachten so hart. Und fordert diese Härte nicht mehr Unerbittlichkeit gegen fanatisierte Täter, die andere aus dem Leben reißen?
Erst vor wenigen Tagen hat Berlin, ja hat ganz Deutschland der Opfer des islamistischen Anschlags am Breitscheidplatz vor acht Jahren gedacht. Inmitten einer heute stark gesicherten Zone, in der ein Weihnachtsmarkt am Platz vor der Gedächtniskirche die Menschen zu Hunderten anzieht.
Jetzt sind neue Opfer zu beklagen. Ein 50 Jahre alter Arzt für Psychiatrie aus Saudi-Arabien ist am Freitagabend mit einem Auto durch die Menschenmenge auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt gerast. Er hat fünf Menschen getötet, darunter ein Kind, mehr als 200 Besucher sind verletzt, viele davon schwer.
Das Trauma lebt auf. Und es lebt fort. Früher waren Weihnachtsmärkte Orte leuchtender Augen und reiner Freude. Dass ein Leben in Gefahr sein könnte, hätte niemand gedacht oder gar erwartet.
Darum sind diese Anschläge, diese Attacken umso schlimmer: Sie treffen die Menschen in jeder Hinsicht unvorbereitet. Und Wunden an der Seele heilen schwer. Der Opferbeauftragte der Bundesregierung, Pascal Kober, hat darum recht: Es werden viele Hundert sein, die nach dem Anschlag von Magdeburg Hilfe benötigen.

© IMAGO/dts Nachrichtenagentur
Das hat der Staat gelernt: Die Opfer, die Tatzeugen, die Ersthelfer – deren psychische Belastungen werden hoch sein, und deshalb brauchen sie alle Hilfe. Staatliche Stellen müssen alles tun, dies sicherzustellen. Die Betroffenen müssen wahrgenommen werden in ihren Sorgen und Anliegen, finanziell wie psychosozial. Denn ein Trauma kann fortleben – lebenslang.
Werden aber vom Staat jetzt neue, andere Sicherheitskonzepte gefordert, wirkt das seltsam unangemessen. Denn klar war schon vor den Anschlägen von Berlin und Magdeburg, dass es keine vollkommene Sicherheit vor fanatischen Attentätern gibt. Nicht geben kann. Selbstverständlich hat der Staat das Menschenmögliche zu tun, um seine Bürger zu schützen. Ob das in Magdeburg der Fall war, wird untersucht.
Vor allem aber müssen diejenigen, die den Staat vertreten, an neuen Grundlagen für Vertrauen arbeiten. Was bedeutet, im heraufziehenden Wahlkampf sehr ernsthaft – und möglichst gemeinschaftlich – ein Thema besonders zu besprechen: die Wut. Wut steht hinter vielem, was die Gesellschaft im Moment entzweit: empörte Unzufriedenheit über den Mangel an Wahrnehmung und an glaubwürdigen Lösungsangeboten.
Also wäre die erste Anforderung nicht: verschärft Gesetze. Sondern: Nehmt den Menschen die Wut. Übersetzt in einen Auftrag an die Wahlkämpfenden heißt das, sich um das zu kümmern, was die Bürgerinnen und Bürger bedrückt. Dann dementsprechend Lösungen anzubieten – aber nicht, ohne vorher Gespräche darüber anzubieten, auch öffentlich. Naiv? Initiativ!
Es gibt bereits ein Format dafür, das auszubauen sich lohnen könnte: „Ortszeit“, das Format des Bundespräsidenten. Er bereist das Land, verlegt seinen Amtssitz für einige Tage, um am Ort mit Bürgern ins Gespräch zu kommen. Über die Zeiten, mit Zeit. Die Wirkung ist nicht zu unterschätzen.
Dieses Format, personell in XXL, wäre ein sichtbares Zeichen der Politik: für Offenheit und Respekt. Besonders im Wahlkampf. Unterstützt vielleicht noch von fahrenden Kummerkästen, Bussen, in denen es auch Möglichkeiten für Videos oder Audiobotschaften gibt, wenn Menschen sich nichts direkt zu sagen trauen.
Das wären Umfragen der anderen Art. Wären mehr direkte Begegnungen mit der wahren Wirklichkeit. So wie es schon Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung 1969 beschrieb: „Wir haben so wenig Bedarf an blinder Zustimmung wie unser Volk Bedarf hat an gespreizter Würde und hoheitsvoller Distanz.“ Mehr Wahrnehmung, Hinwendung. In echt, in Echtzeit. Ein neues Konzept. Den Versuch ist es wert. Und es ist nicht sicher, dass dann die Mehrheit mehr Härte fordert. Die Zeiten sind schon unerbittlich genug.
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