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In der Abtreibungsdebatte steht "Pro-Choice" gegen "Pro-Life". Lösungen gibt es jedoch nur abseits dieser politischen Pole.

© Felix Heyder/picture alliance / dpa

Moral, Geschlechter und Gesellschaft: Wer Abtreibung zu Politik macht, tut dem Leben keinen Gefallen

Der neue Populismus lässt eines der konfliktreichsten Themen in Deutschland bisher unbesetzt. Warum sich das jederzeit ändern kann. Eine Analyse.

Mit dem Konflikt um die Flüchtlingskrise, dem Aufstieg der AfD und der Entwicklung von Netzplattformen zu einer populistischen Gegenöffentlichkeit hat sich die politische Kultur in der Bundesrepublik nachhaltig verändert. Das Klima ist rauer, wenn nicht härter geworden, was sich mehr noch als im Internet und in Politiker-Äußerungen in bislang eher homogenen Milieus zeigt.

Der Streit um die Fremden spaltet Freunde, Gruppen, Eheleute und Kollegen. Er ist so schlecht zu schlichten, da er sich in vielen Kreisen schon daran entzündet, wem im Zeitalter von Schengen, Globalisierung und hoher Akzeptanz kultureller Vielfalt überhaupt noch die Eigenschaft „fremd“ zugeschrieben werden kann oder darf. Er hat so tiefe Wurzeln, weil der oder das herankommende Fremde seit Menschengedenken ambivalent empfunden wird, trotz Neugier oft erst als Bedrohung, und wenn irgendwann als bereichernd, dann nicht mehr als fremd – denn dann ist, was fremd war, ein Teil von uns geworden. Wohl kein politisches Thema eignet sich daher, Konflikt und Gefühl freizusetzen, wie der Streit um die Gemeinschaft, ihre Grenze und die, die draußen bleiben sollen.

Wirklich keines?

Das eigene Kind ist das Gegenteil des Fremden

Die Dichotomie vom Wir und den anderen wird ideengeschichtlich seit der Antike von einer weiteren Teilung begleitet, dem Wir und dem innersten eigenen Leben, das irgendwann nach außen tritt, dem eigenen Kind. Das eigene Kind ist praktisch das Gegenteil des Fremden, es ist ein selbstständig gewordener Teil des Ichs. Es bereichert, ohne einzudringen, es erhält und stärkt Gemeinschaft, ohne dass diese sich anderen öffnen müsste. Es gehört von Anfang an zu uns. Im besten Fall gibt es später mal zurück, wie es empfangen hat.

Es sei denn, man treibt es ab.

Ungeborene töten – ein ebenfalls existenzieller Konflikt, der in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten, ja was eigentlich? Gelöst? Zur Seite gedrängt? Vergessen ist?

In den siebziger Jahren ein Thema wie Atomstrom und Ostpolitik, war in die Diskussionen um die Abtreibung mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nach der Wiedervereinigung Ruhe eingekehrt. Eine relative Ruhe. Aktuell steigt die Zahl der Abtreibungen wieder, nachdem sie jahrelang zurückging. Es geht wieder um mehr als 100000 Leben jährlich. Wie wenig es bedarf, um hier die alten Gräben aufzureißen, erwies sich gerade erst in mutmaßlichen Verstößen gegen das Werbeverbot für Abtreibungen, Paragraf 219a Strafgesetzbuch. Staatsanwaltschaften hatten begonnen, nach politisch motivierten Strafanzeigen gegen Mediziner zu ermitteln, die Schwangerschaftsabbruch öffentlich als ärztliche Leistung anbieten; ein erstes Urteil ist bereits gesprochen.

Unter der Oberfläche lauern Gereiztheiten

Trotz Koalitionszusage keimte in der SPD die Idee, die Vorschrift mit einer Mehrheit von Grünen und Linken in letzter ungebundener parlamentarischer Minute aus der Welt zu schaffen. Welche Gereiztheit hier unter der Oberfläche lauert, die selbst ansonsten sittsame Politiker aus der Kurve tragen kann, zeigte beispielhaft der Tweet der SPD-Abgeordneten Eva Högl, die für das Scheitern des Vorstoßes „widerliche Lebensschützer“ (und Lebensschützerinnen) in der Union verantwortlich machte.

Wohl nicht ganz zu Unrecht. Im Streit um Paragraf 219a wiederholt sich das Muster älterer Debatten um den ehemals ungleich umstritteneren Abtreibungsparagrafen 218. Frauenrechtlerinnen samt ihren Unterstützern reklamieren das Schicksal Ungeborener für die exklusiv weibliche (Selbst-)bestimmung, womit das Werbeverbot natürlich unvereinbar erscheint, während die angesprochenen „Lebensschützer“ es für notwendig halten, um das mühsam ins Gleichgewicht gebrachte normative Konstrukt rund um die eingeschränkte Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen angemessen zu flankieren.

Tatsächlich ist die als Kompromiss bezeichnete Rechtslage in Deutschland etwas, an der mit guten Gründen gekrittelt werden darf. Werdendes Leben ist grundsätzlich geschützt. Die Straftat des Abbruchs gilt nur ausnahmsweise dann als „nicht verwirklicht“, wenn dieser innerhalb von zwölf Wochen ab Empfängnis vorgenommen wird und die Schwangere den Gang zu einer anerkannten Konfliktberatungsstelle nachweist. In der Praxis bedeutet dies eine Fristenlösung plus etwas Bürokratie. Zugespitzt: In den ersten drei Monaten kann eine Frau mit dem Kind machen, was sie will. Trotzdem bleibt es formal eine Straftat.

Das elterliche Förderprogramm für den Nachwuchs beginnt schon im Bauch

Ein faktischer Freibrief? Oder eine normative Gängelung? „Pro-Life“-Anhänger sind empört, „Pro-Choice“-Verfechter fühlen sich geknechtet. Die Diskussionen haben das Potenzial, jederzeit wieder in der Mitte der Gesellschaft ausgetragen zu werden. Das liegt zum einen an der gewandelten Stellung von Kindern. Ähnlich wie Gesellschaften darum rangen, sich ein neues, zivilisierteres Bild vom Fremden zu machen, wurde auch das Bild vom Kind aktualisiert. Mit der Emanzipation der Frau hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass Kindheit keine Verkleinerung oder Vorstufe des Erwachsenendaseins ist, sondern eine eigene Lebensphase mit eigenen Bedürfnissen. Der absehbar nächste Schritt dürfte die Ausstattung mit einem eigenen Grundrecht sein. Betrachtet man die letzten Jahrzehnte, ist das eine Turbo-Entwicklung, die in städtischen Milieus darin gipfelt, den Kleinen mit Förderprogrammen und Frühbeschulung schon wieder neue Fesseln anzulegen.

Die elterliche Sorge für das Ungeborene erschöpft sich hier nicht im Verzicht auf Wein und Zigaretten, vielmehr wird es mit Massage und Musik auf seinen Weg ins Leben vorbereitet. Insgesamt spiegelt sich hier eine Ästhetik, die „Lebensschützer“ dankbar in die visuellen Tableaus ihres Überzeugungsprogramms aufgenommen haben. Weniger die Schockbilder abgesaugter Föten sind es, mit denen zunehmend politisch operiert wird, als vielmehr lachende Milchzahngesichter im fröhlichen Familienverbund.

Eine grün-konservative Gemeinschaft könnte den Wert des Lebens neu entdecken

Eine weitere Entwicklung spielt den Abtreibungsgegnern in die Hände. Mit den Fortschritten der Reproduktionsmedizin werden ungeborenes Kind und Mutter entkoppelt, der Embryo bekommt eine frühe eigene Gestalt. Auch die Rolle der Mutter, die anders als (Schein-)Väter, immer die offenkundig einzige biologische Mutter war, wird entwertet. Frauen, die sich gemeinsam ein Kind wünschen, können sich heute legal verabreden, der einen eine mit Spendersamen befruchtete Eizelle der anderen einzusetzen. In manchen Ländern ist es sogar möglich, die entkernte Eizelle der einen Partnerin mit Erbanlagen der anderen auszustatten. Das Verbot der Leihmutterschaft gilt zwar noch, doch fällt es zunehmend schwer, es zu rechtfertigen. Ein Kind kann daher mehrere Mütter haben. Angesichts solcher Optionen erscheint es zunehmend widersprüchlich, Embryonen aus einem Mutterleib zu entfernen, während sie an anderer Stelle mühsam ein- und umgepflanzt werden. Nicht ausgeschlossen, dass eine wachsende und durchaus tonangebende grün-konservative Gemeinschaft die Kostbarkeit des Lebens bei diesem Thema wiederentdeckt.

Die Strategien der Gegenseite lassen eine ähnliche Modernisierung vermissen. Wiederholt wird, begrenzt variiert, das Mantra „Mein Bauch gehört mir“, mit dem in den siebziger Jahren das damals geltende strikte Abtreibungsverbot geschleift wurde. Es gelang, ein Paradigma zu erzeugen, das bis heute wirksam ist: Männer bestimmen über Frauen, und zwar bis ins Innerste.

"Mein Bauch gehört mir", das reicht nicht mehr

Schon damals war eine derart isolierte Betrachtung des Problems fragwürdig, aber vielleicht notwendig, um patriarchalische Krusten zu durchbrechen. Doch heute? Auch Kritikerinnen werden zugeben, dass jedenfalls am westeuropäischen Horizont die gröbsten Unbilligkeiten aus früheren Jahrzehnten abgeräumt sind. Frauen sind in Politik, Wirtschaft, Medien, Forschung und Sport überaus präsent. Die gesellschaftspolitischen Gleichstellungsdebatten haben sich entsprechend verlagert auf Anliegen wie die Unterschiede beim Arbeitsentgelt, geschlechtergerechte Sprache und die Stigmatisierung sexistischer Verhaltensweisen von Männern. Ohne Frage besteht auf vielen Feldern Optimierungsbedarf, jedoch zerfällt der Konsens darüber, wie er erfüllt werden soll.

Zu den Ergebnissen dieser Entwicklung gehört auch ein sich wandelndes Bild von der Vaterschaft, das nicht mehr nur allein aus der Perspektive des Kindes am proklamierten Mein-Bauch-gehört-mir-Prinzip zweifeln lässt. Der genetisch heute genau feststellbare Vater kann mit seiner biologisch übernommenen Verantwortung samt zahlreicher Rechtspflichten heute mehr und mehr Ansprüche auf sein Kind geltend machen. Dass sich Männer in Erziehung und Haushalt ähnlich bewähren wie Mütter, gehört zwar noch nicht zum Alltag; aber es ist Realität geworden und gewinnt unter dem Banner der Work-Life-Balance an Attraktion, ohne überkommene maskuline Rollen- und Selbstverständnisse allzu sehr zu strapazieren.

Das Recht eines Vaters am Ungeborenen ist denkbar geworden

Das Spannungsfeld um das Abtreibungsthema ist damit um einen Pol erweitert worden. Dem vermeintlichen Recht der Frau auf Abtreibung, dem der Staat das Lebensrecht der Ungeborenen entgegensetzt, steht nun auch noch ein immerhin abstrakt denkbares Recht eines Vaters auf sein Kind gegenüber. Natur und Ethik würden seine Durchsetzung verhindern, es aber möglicherweise nicht verschwinden lassen. Jedenfalls wird man, je liberaler das Abtreibungsrecht gestaltet wird, auch Ansprüche von Erzeugern und auf diese Weise „verhinderten“ Vätern mitdenken müssen. Im mit Blick auf die Abtreibung progressiven Schweden ist die Idee ventiliert worden, dass werdende Väter sich bis zur 18. Woche von allen Rechten und Pflichten am Kind lösen können, wenn die Schwangere eine Abtreibung verweigert.

Es könnten auch derartige Überlegungen sein, die sich hinter der Haltung der von der Politikerin Högl identifizierten „widerlichen“ Lebensschützer in den politischen Reihen verbergen. Wenn für Abtreibung öffentlich geworben werden dürfte, wäre es schwer damit vereinbar, dass sie zugleich weiter unter Strafe steht. Paragraf 218 dann ebenfalls zu streichen, könnte, abgesehen von verfassungsrechtlichen Diskussionen, Gleichstellungsbedürfnisse anregen, die quer zu den unter anderem feministischen Motiven stehen, für Frauen mehr Entscheidungsfreiheit zu schaffen.

Andererseits kann, wer Menschenleben wirklich für kostbar hält, keiner Frau absprechen, eine frühe Schwangerschaft nach ärztlichen Standards zu beenden. Dass medizinische Mittel dafür ausreichend zur Verfügung stehen, ist kein Horror, es ist ein Segen und darüber hinaus gesetzliche Pflicht. Es ist also falsch, dass der Staat jenseits des Symbolismus von Paragraf 218 Abtreibung rundheraus ablehnt. Nur fördert er sie nicht.

Das größte Defizit ist ein Informationsdefizit

Trotzdem gibt es ein Defizit – ein Informationsdefizit, auf das die Kritiker des Werbeverbots zu Recht hinweisen. Soweit Kliniken und Mediziner eingewilligt haben, könnten sämtliche für Gesundheit zuständigen Ämter entsprechende Listen verfügbar halten oder in das Internet stellen. Dann kann der Weg einer Schwangeren auch erst zum Arzt und dann zu einer anerkannten Beratungsstelle führen. Den Frauen könnte damit die Entscheidung leichter werden – gegen das Kind, aber womöglich auch für ein Kind.

Ein amtliches Informationsangebot, das leicht aufzufinden und für jeden schnell erreichbar ist – warum sollte es das nicht geben? Hamburg ist den Schritt schon gegangen und veröffentlicht Listen, Berlin will nachziehen. Sogar das katholisch geprägte Bayern gibt auf Anfrage eine Liste mit Kliniken im Freistaat heraus. In Ländern wie Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen zeigt man sich dagegen weitgehend kenntnislos. Die Versorgung sei gesichert, heißt es im Wesentlichen. Adressen würden nicht erfasst.

Aktuelle Daten sind reichlich vorhanden, sie liegen beim Bundesamt für Statistik, das jedoch jenseits der eigenen Zwecke keine andere Datenweitergabe zulässt. Die amtliche Statistik soll garantieren, dass sich der Staat vom Umfang der Abbrüche in Deutschland ein aktuelles Bild machen kann. Es müsste möglich zu machen sein, den Ländern die Angaben auch zum Zweck öffentlicher Information bereitzustellen. Mit einer solchen Maßnahme könnten Praxen und Kliniken auch gut darauf verzichten, das Angebot auf ihren Webseiten auszuschildern. Tun sie es, im geboten sachlichen Ton, trotzdem, sollte dies straflos sein; werden die aktuellen Urteile bestätigt, sollte der Gesetzgeber den 219a tatsächlich streichen.

Der Konflikt um die Abtreibung bietet ein ungeheures politisches Potenzial. Wer es in diesen Zeiten ausreizen will, macht sich jedoch verdächtig. Die Probleme sind beherrschbar, die Defizite behebbar. Wenn der Populismus nach Islam und Flüchtlingen das nächste Thema besetzt, sollte man vorbereitet sein.

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