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Wer liegt auf den Covid-Intensivstationen? Der RKI-Chef sieht religiöse und ethnische Zusammenhänge.

© Imago

Nach Äußerungen des RKI-Chefs: "Schichtzugehörigkeit zählt bei Covid, nicht Religion"

Der RKI-Chef sieht einen Zusammenhang zwischen schweren Covid-Verläufen und Herkunft. Migrantische und muslimische Organisationen reagieren.

Im Streit um hohe Zahlen von Covid-Intensivpatientinnen und -Patienten aus migrantischen Familien haben Fachverbände Kritik geäußert. “Der Chef des RKI ist sicher eine Koryphäe auf seinem Gebiet und kann dort entsprechend Aussagen machen, die Hand und Fuß haben”, sagte Gabriele Boos-Niazy, die Vorsitzende des “Aktionsbündnisses muslimischer Frauen”, das sich für die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Musliminnen in Deutschland einsetzt. In Bezug auf Muslime fehle sie Wieler aber offenbar – “warum sollte er sie auch haben? Man würde ja auch “keine Lehrerin oder einen Bäcker zur Effizienz eines Impfstoffs befragen”.  

Wieler hatte nach einem Bericht der “Bild”-Zeitung bei einer Schaltkonferenz mit Chefärzten der Aussage eines der Ärzte zugestimmt, dass mehr als 90 Prozent der schwerstkranken Covid-Patienten einen Migrationshintergrund hätten und dass sie die Gruppe seien, die Corona-Warnungen offenbar nicht erreichten. Dies sei “ein Tabu”, sagte Wieler, dem Problem lasse sich nur durch “beinharte Sozialarbeit in den Moscheen” beikommen. Wieler hatte den Bericht nicht dementiert, sondern erklärt, es habe sich nicht um ein öffentliches Expertengespräch gehandelt, sondern um einen persönlichen, informellen Austausch. Eine Sprecherin des Robert-Koch-Instituts stellte inzwischen klar, dass es sich um die Aussagen von drei Chefs dreier Großstadtkliniken handle, was nicht repräsentativ für die Gesamtlage sei.

"Krankenhäuser stellen nicht die Religion ihrer Patient:innen fest" 

Wenn tatsächlich, wie der RKI-Chef sage, 90 Prozent der intubierten, schwerstkranken Patienten einen Migrationshintergrund hätten, dann müsse dies untersucht werden, sagte Boos-Niazy dem Tagespiegel. “Nicht mehr nachvollziehbar” sei sein Schluss, dass es sich hierbei vor allem um Muslime handle, da er ja über Imame auf sie einwirken wolle. Es gebe schließlich “ keinen Grund anzunehmen, dass von jedem Patienten, jeder Patientin die Religionszugehörigkeit erhoben wird”. “Boos-Niazy kritisierte  auch, dass hier erneut Religion und soziale Lage kurzgeschlossen würden: “Man könnte von einem Fachmann auf dem Gebiet der Medizin, wie Professor Wieler es unzweifelhaft ist, eigentlich erwarten, dass er den Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund, Schichtzugehörigkeit, dem Zugang zu gesundheitlicher Versorgung und dem Gesundheitszustand ansprechen würde. Die Schichtzugehörigkeit dürfte ein zuverlässigeres Kriterium zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit sein, auf der Intensivstation zu liegen, als die Religionszugehörigkeit." 

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Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, zeigte sich verwundert über die  Annahme, es gebe besondere Verständigungsschwierigkeiten über Covid: “Abgesehen von den Verschwörungsdurchgeknallten, die es übrigens in allen Schichten und Gesellschaften gibt - auch unter Migranten oder Muslimen - haben weltweit alle inzwischen den gefährlichen Schuss Covid gehört und verstanden. Warum jetzt ausgerechnet Deutsche mit Migrationshintergründen schwer von Kapee sein sollen, erschließt sich mir nicht.“ 

Ehsan Djafari, Vorstandssprecher des Verbandes für interkulturelle Wohlfahrtspflege, Empowerment und Diversity (VIW), bemängelte im Gespräch mit dem Tagesspiegel, dass überhaupt Zahlen zu angeblich migrantischen Patienten ins Spiel gebracht würden: “Eine finalisierte Aussage darüber ist nicht verantwortbar, es gibt keine brauchbaren Informationen.” Wenn es tatsächlich einen überdurchschnittlichen Anteil von Menschen aus Einwandererfamilien gebe, die intensivtherapiert werden, “dann dürften dafür andere Gründe eine Rolle spielen als die ethnische Zugehörigkeit”, sagte Djafari.

Arm, wenig Wohnraum, Jobs ohne Schutzmöglichkeit

Auch wenn es inzwischen einen großen Teil von Gutverdienern unter ihnen gebe: “Die meisten können sich dennoch keine großen Wohnungen oder Einfamilienhäuser leisten. Auch das Homeschooling hat migrantische Kinder deshalb schon am meisten negativ betroffen, warum sollte das beim älteren Teil der Migrationsbevölkerung anders sein?” Djafari verwies auf eine internationale OECD-Studie, derzufolge die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen zugewanderte Familien besonders hart treffen. Einwanderer-Familien sind demnach eher arm, leben häufiger auf engem Raum zusammen und arbeiten oftmals in Jobs, wo das Abstandhalten zum Schutz vor dem Coronavirus kaum möglich ist. “Damit sind sie deutlich anfälliger für eine Covid-19-Infektion”, so Djafari. “Wir müssen leider von einer dramatischen Benachteiligung der Menschen mit Migrationsbiografien sprechen.“

Ein Sprachproblem sieht er allerdings durchaus: “Fehlende Sprachmittlung ist insgesamt ein Problem des deutschen Gesundheitssystems.” Wenn komplexe Krankheitsverläufe geschildert werden müssten, brauche es dafür geeignete Übersetzung. Die müsse politisch unterstützt und finanziert werden. Bisher sei aber nicht einmal klar, wer dafür zuständig sei, die Sozialämter, die Gesundheitsministerien, Länder oder der Bund. Djafari warnte vor Folgekosten mangelnder Fürsorge für migrantische Patienten im System – die sieht er auch für die Impfbereitschaft auf Deutschland zukommen, wenn es keine gute Aufklärung in den jeweiligen Erstsprachen gebe: “Auch die migrantischen Communitys sind nicht davor gefeit, Verschwörungsmythen nachzulaufen.” 

Erst Terror und Kriminalität, jetzt Corona-Spreader?

Die AmF-Vorsitzende Boos-Niazy bedauerte auch die Art der Berichterstattung, in der es unbewiesen erneut um muslimische Gläubige gehe, diesmal in Verbindung mit der Pandemie: “Wenn sich außer Terror und Clankriminalität noch ein anderes negatives Feld finden lässt, mit dem man sie in Verbindung bringen kann, warum nicht?”, sagte sie dem Tagesspiegel.  Gleichzeitig lasse sich “das Bild verfestigen, dass 'die da oben' Angst haben, jede kritische Äußerung über Muslime könnte ihnen als Rassismus ausgelegt werden, und deshalb handlungsunfähig sind”. Der Bundesinnenminister, so Boss-Niazy, scheine keine derartigen Ängste zu haben: “Gerade wird ein Gesetz auf den Weg gebracht, das das Erscheinungsbild aller Beamt:innen regeln soll und darin ist, wenig überraschend, ein Kopftuch- und Kippaverbot vorgesehen.”

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