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Einsatz des Himars-Mehrfachraketenwerfers in der Ukraine.

© Imago

Naht der Wendepunkt im Ukraine-Krieg?: Drei Gründe, warum die Himars-Euphorie vielleicht zu früh kommt

Russland fürchtet die „mächtigen“ US-Raketenwerfer – manche Beobachter erklären sie schon zu „Game Changern“ in dem Konflikt. Eine Analyse.

Als die vier Himars-Mehrfachraketenwerfer endlich in der Ukraine eingetroffen waren, da ließ es sich der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow nicht nehmen, seinem amerikanischen Amtskollegen Lloyd J. Austin noch einmal ausdrücklich für „diese mächtigen Werkzeuge“ zu danken.

Himars – das steht für High Mobility Artillery Rocket System. Die hochmodernen Waffensysteme können sechs präzisionsgelenkte Raketen gleichzeitig auf Ziele in bis zu 80 Kilometern Entfernung abfeuern. Sie erlauben der ukrainischen Armee aus größerer Entfernung Angriffe auf die russische Armee, ohne selbst in Reichweite der russischen Artillerie zu sein.

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Insbesondere sensible russische Infrastrukturpunkte wie Munitions-, Öl- und Waffendepots oder Bahnlinien konnten so in den vergangenen Wochen effizient zerstört werden, was aktuell in den sozialen Netzwerken bei den Unterstützern der Ukraine und bei ukrainischen Militärs zu einer regelrechten Himars-Euphorie führt.

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Der Ukraine gelingen empfindliche Schläge

Wie die Analysten des amerikanischen Militär-Thinktanks Institute for the Study of War (ISW) in einem aktuellen Briefing schreiben, seien russische Munitionslager in den Städten Dibrovne, Snischne und Melitopol durch Himars-Angriffe zerstört worden.

Laut dem Portal „Kyiv Independent“ sollen in den vergangenen vier Wochen gar 20 russische Depots getroffen oder vollständig ausgeschaltet worden sein. Manche Beobachter sprechen aktuell gar von mehr als 30 Zielen. Ein Großteil in den hart umkämpften Oblaste Luhansk und Donezk, aber auch vier davon rund um die Hafenstadt Cherson im Südosten am Schwarzen Meer. Sogar ein Ziel in Mariupol soll getroffen worden sein. Auf Twitter dokumentieren diverse Videos die Schlagkraft der ukrainischen Raketenangriffe.

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Der ehemalige russische Militärkommandeur Igor Girkin, der während des Krieges im Donbass 2014 Kämpfer befehligte, kommentierte auf seinem Telegram-Kanal, die erfolgreichen ukrainischen Schläge dokumentierten die „Ineffektivität der russischen Flugabwehrraketen gegen Himars“.

Liefern Nasa-Daten erste Indizien für Probleme in der russischen Kriegslogistik?

Interessant sind auch die jüngsten Daten des sogenannten „Fire Information for Resource Management System“ der Nasa. Hier lokalisiert die Weltraumbehörde die Brände rund um den Globus. Anhand der Brandherde lässt sich ungefähr nachzeichnen, wo am jeweiligen Tag Raketen in der Ukraine einschlagen.

Rote Punkte markieren die Brände am 9. Juli in der Ostukraine. Mit ihnen lässt sich der Frontverlauf an diesem Tag rekonstruieren.
Rote Punkte markieren die Brände am 9. Juli in der Ostukraine. Mit ihnen lässt sich der Frontverlauf an diesem Tag rekonstruieren.

© NASA - FIRMS

Auffällig dabei: Im Vergleich zu den Tagen zuvor waren es am 10. Juli erkennbar weniger Angriffe – womöglich ein erstes Indiz für Probleme bei der Munitionsversorgung der russischen Truppen. Wie der Gouverneur von Luhansk berichtet, gab es am Wochenende auch weniger Artillerieangriffe durch russische Truppen.

Eine andere Interpretation der wäre jedoch, dass die russische Heeresführung ihren Soldaten nach der aufreibenden Eroberung der Oblast Luhansk - wie angekündigt - lediglich eine Pause gönnt. Was letztendlich zutrifft, wird sich erst in den kommenden Tagen herausstellen.

Die Firms-Daten vom 10. Juli
Die Firms-Daten vom 10. Juli

© Nasa - Firms

Festhalten lässt sich bereits jetzt: Die Mehrfachraketenwerfer eröffnen der Ukraine neue kriegstaktische Möglichkeiten. Dass die USA am vergangenen Freitag ein neues Rüstungspaket im Gesamtwert von 400 Millionen Dollar (393 Millionen Euro) samt vier weiteren Himars inklusive Munition auf den Weg brachte, dürfte helfen, den russischen Vormarsch zumindest zu bremsen. Die ukrainische Armee käme so auf zwölf Systeme der Mehrfachraketenwerfer, acht sollen an der Front inzwischen im Einsatz sein.

Und doch wäre es verfrüht, die Lieferungen der amerikanischen High-Tech-Waffen als Wendepunkt für die Ukraine zu interpretieren. Drei Gründe sind dafür ausschlaggebend.

1. Das unausgeglichene Artillerie-Verhältnis bleibt

Trotz der umfangreichen US-Waffenlieferungen spricht das Verhältnis bei der verfügbaren Artillerie weiterhin klar pro Russland. „Da sind die Kräfteverhältnisse von sechs zu eins bis zehn zu eins“, erklärte Oberst Ralf Feldotto, Referatsleiter für die Bereiche Krisenführung und Bedrohungsanalyse im Verteidigungsministerium, in der Videoreihe „Nachgefragt“.

Im aktuellen Abnutzungskrieg in der Ostukraine bleibt das – Himars hin oder her – der kriegstaktisch entscheidende Faktor. Denn die Himars sind vor allem dafür gedacht, hochrangige Einzelziele zu treffen und nicht auf breiter Front Krieg zu führen und Truppen zurückzudrängen.

Dass gerade die großen europäischen Geberstaaten wie Deutschland nicht in der Lage sind, die Artillerie-Lücke weiter zu schließen, dürfte den Ukrainer weiterhin Kopfzerbrechen bereiten.

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Der insgesamt noch immer geringe Lieferumfang schwerer Waffen sorgt auch aus Sicht des britischen Militärexperten Jack Watling für Probleme beim Einsatz der vorhandenen Systeme wie Himars. Sie seien aktuell im Dauereinsatz, eben weil es so wenige sind, was den Verschleiß erhöhe.

„Wenn die Ukrainer diese (Waffen) nutzen, bedeutet das, dass sie ständig im Einsatz sind und nicht zur Wartung zurückgeholt werden können. Würden Geschütze in Bataillonsstärke bereitgestellt, könnten sie rotieren“, erklärt er im Interview mit dem „Spiegel“.

2. Die Nachschub-Probleme

Die komplizierte Logistik wurde neben der zeitaufwändigen Ausbildung der ukrainischen Armee an westlichen Waffensystemen von Militärexperten immer wieder als Nadelöhr beschrieben. Wie lange es tatsächlich dauern kann, bis die zugesicherten Waffen endlich an der Front zum Einsatz kommen können, zeigte sich ausgerechnet an der ersten Himars-Lieferung.

Das Himars-System an einem unbekannten Ort in der Ukraine.
Das Himars-System an einem unbekannten Ort in der Ukraine.

© VIA PAVLO NAROZHNYY via REUTERS

Die kündigte die amerikanische Regierung zwar Anfang Juni an, doch erst vier Wochen später traf eine erste Batterie im Kriegsgebiet ein. Ebenso herausfordernd stellt sich der Aufbau einer Logistikkette für den Nachschub von Munition dar. Jede Batterie mit sechs Raketen wiegt 2,5 Tonnen, sie müssen mit Fahrzeugen neben den Himars transportiert werden. Bereits vor gut einem Monat beschrieben ukrainische Soldaten in einer Reportage der „New York Times“ die Probleme bei der Munitionsversorgung als zentrales Problem.

Auch das Verhalten der feindlichen Truppen spielt dabei eine Rolle. Denn genauso wie die ukrainische Armee nehmen Russlands Soldaten Bahnlinien und andere Versorgungsrouten gezielt ins Visier – und blockieren so die wichtigen Nachschublieferungen. Mit einem raschen, aber als essenziell beschriebenen Ausgleich des russischen Artillerie-Vorteils ist aufgrund der genannten Punkte demnach nicht zu rechnen. Hinzu kommt: Militärexperten rechnen auch damit, dass die russischen Truppen ihre Munition nun besser verstecken und verteilen.

3. Zu wenig ausgebildete Bodentruppen

Neben den Lieferschwierigkeiten treibt die ukrainische Militärführung noch ein weiteres Problem um. Ihnen geht die Infanterie aus, es fehlt an Bodentruppen. Das schränkt die Kampfkraft stark ein. Die Ukraine muss auf Freiwilligen-Verbände mit wenig Erfahrung zurückgreifen – allerdings hat Russland ähnliche Probleme. Die schiere Masse an Truppen wiegt die begrenzte Professionalität der russischen Soldaten allerdings wieder auf.

Die Ukrainer hingegen können aufgrund der sinkenden Truppenkapazität ihre Operationen immer schlechter planen und umsetzen. Die Offensive in der Südukraine bei Cherson aufrechtzuerhalten und in Donezk gegenzuhalten, wird nach jetzigem Stand eine äußerst schwierige Aufgabe.
Mitarbeit: Christopher Stolz

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