Politik gehört nicht in Fußballstadien: Was kommt als Nächstes? Fanproteste gegen Abtreibung, Atomkraft, Krim?
Das Beispiel Regenbogenfarben bei der EM könnte Schule machen. Als Einladung zu Retourkutschen an Regierungen. Ein Kommentar.
Der Sturz vom hohen Ross ist den Deutschen gerade so erspart geblieben. Ein glücklicher später Ausgleich rettete sie vor dem Vorrunden-Aus. Angriff wie Verteidigung machten Fehler. Das gilt nicht nur sportlich, sondern auch politisch. Das Unentschieden lässt sich als kalte Dusche nach der Überhöhung des Matchs zu einer Schlacht um den Umgang mit sexuellen Minderheiten lesen.
Öffentlich-rechtliche Nachrichtenmoderator:innen hatten das Zeigen der Regenbogenfarben als Kampf zwischen Gut und Böse intoniert. Die deutsche Nationalmannschaft, so die Erwartung nach dem grandiosen 4:2 gegen Europameister Portugal, werde die Ungarn hinwegfegen und damit den angeblich rückständigen EU-Partnern im Osten ihre sportliche und zugleich moralische Überlegenheit demonstrieren.
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Es kam anders. Und das ist gut so. Eine Nachbesprechung, was da nicht so optimal gelaufen ist, tut nicht nur Jogi Löws Team gut. Auch das Festhalten am Grundsatz, politische Fragen aus den Sportstätten herauszuhalten, - wofür die Uefa hart attackiert wurde - verdient einen zweiten, wohlwollenderen Blick, aus mindestens zwei Gründen.
Der Streit stellt Fans gegen Fans, Deutsche gegen Ungarn
Erstens hat die Art, wie der Konflikt ausgetragen wurde, dem Ziel des Sports, Menschen zusammenzuführen, nicht gedient. Der Streit hat Fans gegen Fans, Nation gegen Nation gestellt – also Europa gespalten. Da entstand Bekenntnisdruck auch auf jene, die einfach nur ein Fußballspiel sehen wollten.
Zweitens könnte das Beispiel Schule machen, und zwar ganz anders, als seine Befürworter sich das heute vorstellen: als Einladung zu Retourkutschen an Regierungen, die bei ihren Heimspielen mit Farben, Symbolen und Postern Toleranz einfordern für die von ihnen propagierten Ziele, die im Konflikt mit Haltungen vieler Deutscher stehen.
Bereits die Berufung auf die gute Absicht ist zweischneidig. Ging es wirklich allein um ein Bekenntnis für etwas, Toleranz, und nicht gleichzeitig um einen Aufruf gegen etwas, die ungarischen Gesetze? Münchens OB Reiter hatte den Antrag, das Olympiastadion in den Regenbogenfarben zu beleuchten, mit dem Hinweis auf die Parlamentsbeschlüsse in Budapest begründet.
Der Aufruf für Toleranz war zugleich eine Anklage
Die Aktion war von Beginn an nicht nur als allgemeiner Aufruf zu Toleranz angelegt, sondern als moralische Anklage des Landes des sportlichen Gegners. Das ist das Gegenteil dessen, was Sport zur internationalen Verständigung beitragen möchte.
Es würde die Sache aber nicht besser machen, wenn Reiter den Verweis auf Ungarn weggelassen hätte, höchstens juristisch kniffliger für die Uefa. So oder so wussten alle um den politischen Kontext. Die Inszenierung deutsche Tugenden gegen ungarische Tugenden ist unvermeidlich, wenn solche gesellschaftspolitischen Konflikte in die Stadien getragen werden. Wer ist besser, „wir“ oder „die“? Diese Konstellation ist jedem sportlichen Wettkampf immanent. Sie sollte auf das sportliche Kräftemessen beschränkt bleiben. Das Schwenken der Nationalflaggen lädt die Partien emotional auf. Die übrige Politik bleibt da besser draußen.
Eine Riesengaudi für Orbán: seine Anhänger umgekehrt einzusetzen
Denn Konflikte, bei denen die Haltungen vieler Deutscher im Konflikt mit den Überzeugungen im Land potenzieller sportlicher Gegner stehen, gibt es zuhauf. Und die Pose der gespielten Unschuld als Teil ihrer Propaganda beherrschen Regierende vom Schlage eines Orbán, Putin, Erdogan, Bolsonaro, Xi besser als offene Gesellschaften.
Für Viktor Orbán wäre es eine Riesengaudi, seine Fans beim nächsten Spiel gegen Deutschland mit Postern ins Stadion zu schicken, die seine Haltung als Eintreten für Werte interpretieren: „Aufklärung ist Sache der Eltern, nicht von NGOs“.
Beim Spiel gegen Polen, wo kürzlich das von der Regierungspartei PiS dominierte Verfassungsgericht das Abtreibungsrecht drastisch beschnitten hat, würden dann Fans mit Bannern „Ein Recht auf Leben“ sitzen. In Partien gegen Frankreich werben Zuschauer für die klimafreundliche Atomkraft als Alternative zu Solar- und Windanlagen.
Politik von den Rängen? Putin, Erdogan, Xi machen da gerne mit
Spielt China in Deutschland, würden Deutsche die Umerziehungslager für Uiguren anprangern, beim Match in Peking würden Chinesen „Fortschritt, Arbeit und Wohlstand in Xinjiang“ lobpreisen. Erdogan könnte die Ränge mit Aufrufen gegen kurdischen Terror füllen, Putin mit Danksagungen für die Befreiung der Krim und der Iran mit Banderolen, die die Unterordnung der Frauen für gottgegeben und die Scharia zur besten Rechtsnorm erklären. In Brasilien würden Bolsonaro-Anhänger die Abholzung des Regenwalds zur Arbeitsbeschaffung für Indigene verklären
Es ist ein Irrweg, den Bann politischer Symbole in den Stadien aufzuweichen, nur weil einem ein Anliegen sympathisch erscheint. Wer das Recht auf diese Art der politischen Demonstration im Sport reklamiert, muss es auch den andersdenkenden Fans aus anderen politischen Kulturen zugestehen. Das aber würde uns erst recht empören.
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