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Demonstranten in Sidon, südlich von Beirut, blockieren Straßen, Barrikaden brennen.

© Mahmoud Zayyat/AFP

Proteste im Libanon: Reale Angst vor einem neuen Bürgerkrieg

Bei schweren Zusammenstößen in Beirut wurden in den vergangenen Nächten Hunderte verletzt. Die Zeichen stehen auf Eskalation.

Seit mehr als zwei Monaten gehen die Menschen im Libanon auf die Straße, um gegen ihre politische Elite zu demonstrieren. Ihre Wut richtet sich gegen Misswirtschaft, Korruption und den im Mittelmeerstaat dominierenden Sektarismus, der die strenge Aufteilung politischer Posten nach religiösem Proporz vorsieht.

So müssen die drei wichtigsten Ämter im Staat, Präsident, Premierminister und Parlamentssprecher, jeweils von einem Christen, einem Sunniten und einem Schiiten besetzt werden. Diese Regelung sollte 1990 nach Ende des blutigen, 15 Jahre währenden libanesischen Bürgerkrieges, zur Stabilisierung und konfessionellen Gerechtigkeit beitragen.

In der Realität blockiert die Aufteilung der Posten nach Religionszugehörigkeit die so dringend benötigten Reformen.

Seit Jahren in einer tiefen wirtschaftliche Depression

Neben der politischen erlebt der der Libanon gerade zeitgleich eine ökonomische Krise. Seit Jahren steckt das Mittelmeerland in einer tiefen wirtschaftlichen Depression. Die finanzielle Lage ist prekär. Die Libanesische Lira verliert jeden Tag an Wert, Lebensmittel werden teurer, viele Angestellte erhalten nur noch die Hälfte ihres Gehalts. Finanzexperten warnen vor einem baldigen Staatsbankrott des hoch verschuldeten Zedernstaates.

Die am 17. Oktober beginnenden Massenproteste waren lange geprägt von der friedlichen Atmosphäre, der dominanten Rolle von Frauen in den ersten Reihen der Demonstrationen und dem Überwinden der religiösen Spaltung. Muslime und Christen begehrten Hand in Hand auf gegen ihre Regierung. Das Video eines DJ’s, der im extrem konservativen und in den vergangenen Jahren durch religiösen Extremismus  in Verruf geratenen nördlichen Tripoli, tausende Menschen bei der allabendlichen Demonstration zu Techno-Beats raven ließ, ging um die Welt. Seit dem vergangenen Wochenende dominieren andere Bilder.

Massiver Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen

Die Lage eskalierte erstmals am Samstagabend, als hunderte Demonstrierende versuchten zum zentralen Nijmeh-Platzi in der Mitte Beiruts zu marschieren. Der Platz grenzt unmittelbar an das libanesische Parlament und ist seit Beginn des Volksaufstandes im Zedernstaat durch Stacheldraht und Metallbarrieren für die Öffentlichkeit gesperrt.

Als die Demonstranten die Wiedereröffnung des  Areals forderten und einige versuchten, die von Sicherheitskräften angelegte Barrikaden zu entfernen, reagierten Polizei und Militär mit Gewalt. Die Sicherheitskräfte versuchten durch massiven Einsatz von Tränengas, Gummigeschossen und Wasserwerfern die Demonstranten zu vertreiben. Diese wiederum antworteten mit Steinwürfen und Straßenblockaden. Bis in die frühen Morgenstunden lieferten sich Protestierende  und Polizei ein Katz- und Mausspiel. Dutzende Menschen wurden verletzt.

Viele Familien mit Kindern beim Protest

Auch am Sonntag kam es zu schweren Zusammenstößen und teilweise chaotischen Szenen. Zunächst versammelten sich Tausende Demonstranten erneut in „Downtown“-Beirut, dem Regierungsviertel der Hauptstadt. Unter ihnen bemerkenswert viele Familien mit Kindern. Mehrere Stunden standen die Zeichen auf friedlichem Protest, sowohl die Demonstrierenden, als auch die Sicherheitskräfte wirkten entspannt.

Nach Informationen des Tagesspiegels eskalierten auch die sonntäglichen Proteste schließlich, als einzelne vermummte Männer damit begannen, Wasserflaschen und Feuerwerkskörper auf die Sicherheitskräfte zu werfen. In den sozialen Netzwerken war von einem  gezielten Gewaltausbruch durch Attacken von Infiltratoren der Protestbewegung die Rede, die angeblich unter anderem der schiitischen Amal-Partei Nahe stehen.

Und tatsächlich tauchten auf Twitter Videos von einzelnen Amal-Sympathisanten auf, die sich unter die friedlichen Demonstranten gemischt hatten und in selbst geposteten Clips von eine baldigen „Eskalation der Lage“ sprachen.

Sicherheitskräfte werfen Steine auf Demonstranten

Es folgte eine weitere Nacht der Gewalt, Tränengaswolken hingen bis in die frühen Morgenstunden über dem Zentrum der Mittelmeermetropole. Am Rande der Ausschreitungen kam es zu bizarren Szenen.

So wurden Sicherheitskräfte dabei beobachtet, wie sie Steine auf Demonstrierende warfen. Am Kopf von einem Stein getroffen, geworfen aus den Reihen der Polizei, wurde unter anderem ein Fotograf der Nachrichtenagentur Reuters.

Darüber hinaus sollen nach Augenzeugenberichten Angehörige der Parlamentspolizei das Protestlager der zivilen Massenbewegung niedergebrannt haben und nicht nur Demonstrierende, sondern auch Soldaten mit Tränengas beschossen haben.

Amal und Hisbollah verursachen Eskalation

Die Parlamentspolizei ist dem Sprecher der Volksversammlung und Vorsitzenden der schiitischen Amal-Bewegung, Nabih Berri, unterstellt. Die Amal-Partei wird gemeinsam mit Anhängern der ebenfalls schiitischen Hisbollah für zahlreiche Attacken auf friedliche Demonstrierende in den vergangenen Wochen verantwortlich gemacht.

Auch im Verlauf der Nacht zu Sonntag versuchten hunderte Anhänger der beiden schiitischen Parteien bei den Ausschreitungen mitzumischen. Dabei kam es auch zur direkten Konfrontation mit Anhängern der Anti-Regierungsproteste, die sich erstmalig versuchten zu verteidigen.

Schiiten und Sunniten treffen direkt aufeinander

Unter den sich, den Schlägern gegenüberstellenden Demonstrierenden, befanden sich auffallend viele Männer aus dem sunnitischen Tripoli. Das belegen Aufnahmen, die in den Sozialen Netzwerken zirkulieren. Zum ersten Mal trafen also schiitische Provokateure der Amal und Hisbollah auf sunnitische Unterstützer der Protestbewegung.

In der Nacht zu Dienstag kam es erneut zu schweren Straßenschlachten, diesmal jedoch ohne jegliche Beteiligung der Protestbewegung. Gegen Mitternacht attackierten Hunderte Männer, aus dem Spektrum von Amal und Hisbollah, erneut die Sicherheitskräfte.

Durch gleichzeitig stattfindende Attacken in den südlichen, vorrangig schiitischen Städten, Saida, Nabatieh und Sur, kann man von einer gezielten Aktion ausgehen. Als Grund für die Auseinandersetzungen von Dienstagnacht wird ein auf Facebook gepostetes Video vermutet, in dem ein Sunnit und ehemaliger Einwohner Tripolis, einen hochrangingen schiitischen Geistlichen beleidigte.

Die Hisbollah verfügt über eine bewaffnete Miliz

Vertreter der Protestbewegung beschuldigen Polizei und Armee bereits seit Wochen mit zweierlei Maß zu messen. So reagierten die Sicherheitskräfte mehrmals auffallend zögerlich gegenüber Schlägern der Amal und Hisbollah. Beide Parteien waren Teil der Regierung des Ex-Premiers Hariri und besitzen - als größte Vertreter der Schiiten - über erheblichen Einfluss im Libanon. Die Hisbollah verfügt über eine eigene bewaffnete Miliz, die vor allem im Süden des Landes aktiv ist und als einzige Gruppierung nach Ende des libanesischen Bürgerkriegs 1990, ihre Waffen nicht abgegeben hat.

Hariri will nicht mehr kandidieren

Am Donnerstag soll zum ersten Mal seit Beginn der Demonstrationen das libanesische Parlament zusammenkommen, um über einen neuen Premierminister zu beraten. Zuvor wurde die konsultierende Parlamentssitzung mehrere Male hintereinander in letzter Sekunde verschoben, weil sich die unterschiedlichen Fraktionen nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen konnten.

Erwartet wurde lange eine Nominierung des am 29. Oktober, in Reaktion auf die Massenproteste, zurückgetretenen Premierministers Saad Hariri. Dieser hat am Mittwochabend jedoch erneut deutlich gemacht, dass er für das Amt des Premierministers nicht mehr zur Verfügung steht. Viele Libanesen und Libanesinnen lehnten eine Rückkehr Hariris sowieso vehement ab und wünschen sich stattdessen eine sogenannte „Technokraten“-Regierung, bestehend aus Experten und Expertinnen.

Der libanesische Präsident Michel Aoun (links) und der zurückgetretene Premierminister Saad Hariri.
Der libanesische Präsident Michel Aoun (links) und der zurückgetretene Premierminister Saad Hariri.

© Mohamed azakir/Reuters

Aus Sorge vor neuen Ausschreitungen haben Sicherheitskräfte in der vergangenen Nacht mit dem Aufbau von Betonmauern rund um das Parlamentsgebäude in Beiruts Zentrum begonnen. Gleichzeitig wurde das angrenzende schiitische Al Khanda-Viertel, Ausgangspunkt für die wiederholten Gewaltexzesse durch Unterstützer der Hisbollah –und Amalbewegung, durch eine weitere improvisierte Mauer vom Zentrum Beiruts abgetrennt.

Auf Twitter sprechen User von einer neuen “Greenline”. Diese Grenze hatte während des 15 Jahre währenden libanesischen Bürgerkriegs, muslimische von christlichen Stadtteilen separiert.

Betonmauern wurden um das Regierungsviertel in Beiruts Zentrum aufgebaut.
Betonmauern wurden um das Regierungsviertel in Beiruts Zentrum aufgebaut.

© Anwar Amro/AFP

Und auch Experten stufen die Gefahr von eskalierenden, religiösen Spannungen als real ein. Joseph Haboush, einer der bekanntesten Journalisten des Landes,  schreibt in der englisch sprachigen Zeitung, „The Daily Star Lebanon“, dass ihn die zunehmenden Provokationen von Infiltratoren auf den Straßen des Landes an die Vor-Bürgerkriegs Szenerie in Beirut im Jahr 1975 erinnert.

Und weiter: „Die religiöse Zwietracht des libanesischen Bürgerkriegs, für den das Land nach wie einen hohen Preis zahlt, klopft erneut an den Türen des Staates.“

Warnung des UN-Koordinators für den Libanon

Dem schließt sich der von den Vereinten Nationen beauftragte Koordinator für den Libanon, Jan Kubis, auf Twitter an. Er verurteilt die wachsende Infiltration der Proteste und warnt die politische Führung des Libanon: „ […], Provokationen, die es zum Ziel haben, religiöse Zwietracht zu säen … ist es das, was die politische Führung für die Bevölkerung geplant hat?“

Julius Geiler

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