Gesundheitssystem: Relevant für die Praxis
Ärzte und Patienten sind mit dem Gesundheitssystem meist zufrieden, sorgen sich aber um die Zukunft, wie eine Umfrage ergeben hat. Wie kann die Gesundheitsversorgung ihrer Ansicht nach gesichert werden?
Die Deutschen sind beides zugleich: hoch zufrieden und aufs Äußerste beunruhigt. 70 Prozent der Patienten und 88 Prozent der Ärzte loben in einer aktuellen Allensbach-Umfrage die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems. Der Anteil der Zufriedenen ist seit 2008 kontinuierlich gestiegen, bei den Patienten ist es der höchste Wert seit 2003. Gleichzeitig aber sehen drei von vier Bürgern und 93 Prozent der Mediziner die Finanzierung des Systems auf lange Sicht als keineswegs gesichert. Und gut 70 Prozent der Befragten halten auch die Lasten für „ungerecht verteilt“ – eine harsche Kritik an der gerade durchgewinkten Gesundheitsreform der Regierung.
Auffällig ist die Befürchtung vieler Bürger, dass an ihrer Behandlung gespart wird. Die Sorge, dass man ihnen notwendige Leistungen aus Kostengründen verweigert, plagt 42 Prozent der Patienten. Unter den gesetzlich Versicherten sind es 46, unter Befragten mit schlechtem Gesundheitszustand gar 57 Prozent. Das Schlimme daran: Die Angst ist offenbar berechtigt. 55 Prozent der Mediziner, also mehr als jeder zweite, gaben zu Protokoll, aus Kostengründen bereits auf Behandlungen verzichtet zu haben, die aus ihrer Sicht medizinisch nötig gewesen wären – 62 Prozent der niedergelassenen Mediziner und 49 Prozent der Klinikärzte. Dass dies „häufig“ geschehe, räumten zwölf Prozent ein, dass es „gelegentlich vorkomme, unterschrieben 24 Prozent. Den Patienten blieben solche Entscheidungen nicht verborgen: 35 Prozent der Bürger und 38 Prozent der Kassenversicherten hatten bereits das Gefühl, dass ihnen Behandlung oder Arznei aufgrund der Kosten vorenthalten wurde.
Die Bundesärztekammer, die an der Umfrage beteiligt war, findet das zumindest beunruhigend. Die Äußerungen gäben zu denken, sagt Vizepräsident Frank Ulrich Montgomery. Wenn die Mediziner aufs Geld sähen oder ihre Kapazitäten berücksichtigten, gehe es aber nicht um Notfallversorgung oder „Lebensnotwendiges“, sondern um Dinge, „die man verschieben kann“, also etwa Vorsorgetermine oder planbare Behandlungen. „Wir kennen keine Fälle, wo Patienten zu Schaden gekommen sind.“ Im Übrigen sind selbst aus der Sicht der Versicherten viele der Patienten überversorgt. 41 Prozent der Befragten gaben an, dass die Mediziner häufig auch unnötige Medikamente verschrieben. Und 56 Prozent finden, dass die Deutschen zu oft zum Arzt gehen. Unter den Ärzten stimmten sogar 70 Prozent der Aussage zu, dass sie häufig „unnötig“ aufgesucht würden.
Ansonsten ärgern sich viele über Ungerechtigkeiten im System. Die größte besteht aus Bürgersicht in der nun deutlich ausgeweiteten Möglichkeit für die Krankenkassen, einkommensunabhängige Zusatzbeiträge zu verlangen. 82 Prozent finden das unfair – unabhängig davon, ob sie selber gut oder schlecht verdienen. Gerechter wäre es für 53 Prozent beispielsweise, wenn bei der Höhe der Kassenbeiträge künftig auch Miet- und Zinseinnahmen berücksichtigt würden.
Ähnlich einhellig ist das Urteil, dass Patienten und Versicherte mit der Gesundheitsreform übermäßig belastet werden – sogar die Ärzte nennen in der Benachteiligten-Skala ihre Kundschaft und nicht sich selbst an erster Stelle. Zu wenig zugemutet wurde aus Bürger- und Ärztesicht dagegen der Pharmabranche. Hauptprofiteur der Reform war für die Befragten ganz klar die Industrie – auch das kontrastiert deutlich mit der Selbsteinschätzung der schwarz-gelben Bundesregierung.
In der Einschätzung, was Patienten und Versicherten zumutbar wäre, unterscheiden sich Ärzte und Nichtärzte indessen gewaltig. Den meisten Beifall der Mediziner findet der Vorschlag, die Versicherten an den Behandlungskosten zu beteiligen – 73 Prozent sind dafür. Von den Betroffenen jedoch findet das nur ein Viertel akzeptabel. Unbeliebter sind nur noch höhere Kassenbeiträge (zwölf Prozent), Beschränkung der freien Arztwahl (14 Prozent), höhere Arzneizuzahlungen (18 Prozent), Prioritätenlisten nach Schwere der Krankheit (20 Prozent) und das Ende der kostenfreien Mitversicherung von Ehepartnern (23 Prozent). 67 Prozent hingegen könnten sich eine stärkere Kostenbeteiligung derer vorstellen, die nicht zur Vorsorge gehen. Und fast ebenso viele (66 Prozent) votieren für eine Tarifstaffelung nach Gesundheitsrisiko. Letzteres befürworten auch 73 Prozent der Ärzte. Die freie Arztwahl beschränken wollen nur 27 Prozent.
Für den „Gesundheitsreport 2010“ wurden deutschlandweit 1832 Versicherte und 524 Ärzte befragt, zudem erstmals auch insgesamt rund 1000 in Schweden, der Niederlande und der Schweiz. Auffällig am Ländervergleich: Die Zufriedenheit ist in allen drei Staaten noch höher als hierzulande. An der Spitze liegen die Schweizer mit 93 Prozent. Im Gegenzug ist die Befürchtung, im Krankheitsfall auf notwendige Behandlung verzichten zu müssen, bei den Nachbarn geringer. Nur 30 Prozent der Schweden, 21 Prozent der Holländer und 18 Prozent der Schweizer plagt solche Sorge.