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Szene der jährlichen Operation "Shield Protector", einer zweitägigen Übung, die am 22. Juni von den rumänischen Seestreitkräften organisiert wird und der Konsolidierung der Nato-Kampfverfahren unter den Marinestreitkräften dient

© MIHAI BARBU / AFP

Experten warnen vor Fehlschlüssen: Russlands Krieg gegen die Nato würde mit Sicherheit anders aussehen

Auf dem Nato-Gipfel spielen strategische Überlegungen eine große Rolle. Hat die Allianz das russische Militär zuletzt überbewertet? Ein Gastbeitrag.

Ulrich Kühn und Alexander Graef forschen am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg zu Themen der Rüstungskontrolle und Neuen Technologien. Lukas Mengelkamp ist Historiker und promoviert an der Universität Marburg zur Geschichte der Kritik der nuklearen Abschreckung.

Der Nato-Gipfel in Madrid wird richtungsweisende Entscheidungen für die Sicherheit Europas treffen. Putins Krieg hat die Nato zusammengeschweißt. Unterschiedliche nationale Präferenzen über den zukünftigen Verteidigungskurs könnten die neugefundene Einigkeit jedoch bald wieder infrage stellen.

Das weitgehende Versagen des russischen Militärs in den ersten Kriegswochen hat die meisten westlichen Analysten überrascht. Gleichzeitig warnen renommierte Experten nun vor Fehlschlüssen: Ein Krieg Russlands gegen die Nato würde mit Sicherheit anders aussehen und vorbereitet werden, als die Kampagne gegen die Ukraine. Die Frage, ob die Nato Russlands militärische Fähigkeiten in den vergangenen Jahren überbewertet hat, stellt sich damit ebenso, wie die Frage nach Russlands militärischen Reserven.

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Unsicherheit besteht auch über Russlands Fähigkeit, die erlittenen Materialverluste zu kompensieren. Die Sanktionen des Westens haben zu Vorhersagen über den baldigen Niedergang des russischen Militärs und seiner auf westlichen Technologieimport angewiesenen Waffenschmieden geführt. In der Tat werden die Herstellung und der Import von Hochtechnologie für Russland in Zukunft schwieriger werden.

Dennoch wird Moskau Halbleiter und Chips voraussichtlich weiterhin in China einkaufen können. Die finanziellen Mittel dafür stehen aufgrund gestiegener Energiepreise zur Verfügung.

Der Ukrainekrieg lenkt von der Chinafrage ab

Gleichzeitig weiß niemand, was passiert, sollte Donald Trump oder ein ähnlich nationalistischer Vertreter seiner Partei Ende 2024 ins Weiße Haus einziehen. Zwar geben die Europäer als Folge des Kriegs mittlerweile deutlich mehr für Verteidigung aus, das ändert aber nichts an Amerikas strategischem Langzeitinteresse, sich auf China zu konzentrieren. Der Krieg in Europa lenkt davon eigentlich nur ab. Ein Präsident Trump könnte die Europäer durchaus im Regen stehen lassen.

Dabei ist die Fähigkeit der europäischen Nato-Mitglieder, im Ernstfall bedeutende Truppenkontingente zur Verteidigung nach Osteuropa abzustellen, momentan sehr unterschiedlich ausgeprägt. Gerade Deutschland würde dazu, trotz des 100-Milliarden-Sondervermögens, wohl erst in einigen Jahren fähig sein. Auch bräuchte es dafür eng abgestimmte europäische Prozesse für die Beschaffung von Rüstungsgütern. Die gibt es momentan aber einfach noch nicht.

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Die Schnelligkeit mit der Russland in der Lage wäre, sein Militär zu erneuern, hätte somit wiederum direkte Auswirkungen auf Europas zukünftige Sicherheit. Den europäischen Verbündeten stünde möglicherweise nur ein sehr kleines Zeitfenster zur Verfügung, um ihre eigene Sicherheit zu organisieren.

Weiterhin ist unklar, wo die zukünftige Kontaktzone zwischen Nato und Russland verlaufen wird – im schlimmsten Fall an den Westgrenzen der Ukraine oder gar im neutralen Moldau. Die Unsicherheit über den weiteren Kriegsverlauf hat direkte Auswirkungen auf die zukünftigen geographischen Schwerpunkte der Nato-Verteidigung.

Finnland hat dauerhafte Nato-Bases schon ausgeschlossen

Hinzu kommen unterschiedliche Verteidigungspräferenzen. Während das zukünftige Nato-Mitglied Finnland bereits dauerhafte Nato-Basen auf seinem Territorium ausgeschlossen hat, wünschen sich Länder wie Polen, die drei baltischen Staaten und Rumänien große, permanent-stationierte Nato-Einheiten. Ungarns populistischer Präsident Orbán wiederum versucht den Spagat zwischen Allianzsolidarität und der Aufrechterhaltung seines Sonderverhältnisses zum Kreml. Damit stellt sich die Frage wie stringent die zukünftige Nato-Strategie sein kann.

Für das zukünftige strategische Konzept der Nato bedeuten diese Unsicherheiten die Quadratur des Kreises. Einerseits muss es die östlichen Bündnismitglieder militärisch absichern und dabei unterschiedliche Präferenzen berücksichtigen sowie den Unklarheiten in puncto Geographie und russischer Militärstärke Rechnung tragen.

Amerikas Zickzack-Kurs erschwert die Planung

Andererseits muss es anerkennen, dass wichtige Nato-Staaten, wie Deutschland, gegenwärtig (noch) nicht in der Lage sind, einen Großteil der Verteidigungsaufgaben in Osteuropa zu übernehmen, während Amerikas innenpolitischer Zickzack-Kurs die strategische Planung erschwert.

Seit 2014 verfolgt die Nato gegenüber Russland eine Strategie des „Stolperdrahts“. Im Falle eines russischen Angriffs, beispielsweise auf das Baltikum, wären die kleinen vorort-stationierten Nato-Truppen nicht der Lage Russland aufzuhalten. Ihre schiere Präsenz und der Umstand, dass sich fast jedes Nato-Land an den Verbänden beteiligt, hätten jedoch binnen weniger Stunden die gesamte Allianz involviert. Eine zweite und dritte Nachschubwelle der Nato hätten dann größere Verbände ins Kampfgeschehen gebracht.

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Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine einigten sich die Verbündeten darauf, ähnliche kleine Verbände in Bulgarien, Ungarn, Rumänien und der Slowakei aufzustellen. Die bestehenden Bataillone in Estland, Litauen, Lettland und Polen wiederum wurden verstärkt. Deutschland wird in Litauen einen Brigadestab einrichten. Der Rest der Brigade soll in Deutschland stationiert werden und regelmäßig zu Trainingszwecken in das Land geflogen werden.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg kündigte jüngst zusätzlich „mehr Streitkräfte in höherer Bereitschaft sowie spezifische Streitkräfte, die für die Verteidigung bestimmter Bündnispartner vorgesehen sind“ an. Zusammengenommen ergibt sich ein verstärkter „Stolperdraht“ und eine Ausweitung und schnellere Verfügbarkeit nachrückender Truppen. Trotzdem fordert nicht nur die estnische Premierministerin Kaja Kallas „Kriegsführungskapazitäten“ für die Nato, um „sofort zurückschlagen zu können“.

Kaja Kallas am 23. Juni in Brüssel.
Kaja Kallas am 23. Juni in Brüssel.

© REUTERS/Yves Herman

Mit ihrem bisher eher zurückhaltenden Kurs befindet sich die Nato auf dem richtigen Weg. Um zukünftig auch die Verantwortung der Europäer zu stärken, bietet sich die Neuauflage eines militärischen Konzepts aus dem kalten Krieg an: die sogenannte „Spinne“ im „Netz“.

Am Beispiel Litauens könnte das bedeuten, dass das litauische Militär – verantwortlich für das „Netz“ – mit schultergestützter Panzerabwehrmunition, tragbaren Drohnen und mobilen Artillerieplattformen für moderne Munition ausgerüstet wird, um möglichst schnell in einem Netz aus verstreuten, getarnten und befestigten Feuerstellungen agieren zu können.

Statt kostspielig Schiffe für die Marine zu kaufen, könnten an Land stationierte Anti-Schiffs-Raketenbatterien die Seeverteidigung stärken. Gleichzeitig müssten größere europäische Verbündete – die „Spinne“ – für ausreichend vor Ort gelagerte, sichere Ausrüstung für den raschen Nachschub sorgen und in Logistik, Lufttransportkapazitäten und Flugabwehr für die von ihnen zu stellenden Nachfolgekräfte investieren.

Übernehmen, ohne gleich Truppen stellen zu müssen

Ein solches Konzept hätte mehrere politische Vorteile. Die europäischen Verbündeten, darunter auch Deutschland, würden die Hauptverantwortung für die Verteidigung der Nato-Ostflanke übernehmen, ohne dabei schon heute Streitkräfte bereitstellen zu müssen, über die sie derzeit nicht verfügen oder deren Einsatz sie sich nicht leisten können.

Dies würde den Europäern Zeit verschaffen, um weiter in nationale Streitkräfte zu investieren – idealerweise im Rahmen eines harmonisierten europäischen Beschaffungswesens. Gleichzeitig würden die Europäer den USA einen Teil seiner Lasten abnehmen. Dies wäre nicht nur ein Argument, sollte Donald Trump zurückkehren.

Während große, dauerhaft stationierte und schwere Verbände an der Grenze zu Russland als ideale Ziele für einen Erstschlag Russlands verwundbar wären, würde das Modell aus „Spinne“ und „Netz“ dieses Risiko reduzieren.

Gleichzeitig würde sich ein drohendes Sicherheitsdilemma mit Russland verringern, da die in der Kontaktzone stationierten Nato-Verbände nicht groß genug wären, um Russland aktiv angreifen zu können. Schließlich würde ein solcher Ansatz auch die Tür zur Rüstungskontrolle offenhalten, sollte Russland irgendwann signalisieren, an strikt gegenseitigen und überprüfbaren Rüstungsbegrenzungen interessiert zu sein.

Ulrich Kühn, Alexander Graef, Lukas Mengelkamp

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