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Passanten gehen über die Wiese vor dem Reichstagsgebäude. Seit den Corona-Demonstrationen in Berlin am 29. August wird erneut darüber diskutiert, den Reichstag durch einen Graben zu schützen.

© Kay Nietfeld/dpa

Bannmeile und Graben am Reichstag?: Schafft Platz für die Belagerer!

Die Reichstagsgraben-Debatte hätte sich eine PR-Agentur für Populisten ausdenken können, findet der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller. Ein Essay.

Jan-Werner Müller ist derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin sowie Senior Fellow am Berliner Exzellenzcluster Contestations of the Liberal Script (SCRIPTS).

Man könnte meinen, das hätte sich eine PR-Agentur für Populisten ausgedacht: Der Bundestag wünscht einen tiefen Graben zwischen den Politikern und dem Volk. Die wohlfeile Kritik an diesem Plan übersieht, dass in vielen Ländern in den vergangenen Jahrzehnten die Sicherheitsmaßnahmen für Regierungsgebäude verschärft wurden – nicht wegen unbotmäßiger Bürgerinnen und Bürgern, sondern aus Angst vor terroristischen Anschlägen.

Doch ist es auch wichtig für eine Demokratie, dass Großdemonstrationen vor einem Parlament stattfinden dürfen und symbolisch Druck auf die Repräsentanten ausüben. Hier hätte Berlin einiges zu verbessern.

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Das Wort vom Reichstag als „Schwatzbude“ ist nicht nur historisch belastet und böse – es ist auch grundfalsch: Natürlich werden in Parlamenten auch Phrasen gedroschen, aber primär produziert ein Parlament für alle Bürger verbindliche Entscheidungen. Man mag antikisierende Statuten im amerikanischen Kongress für ästhetisch nicht sehr hochwertig halten – aber zweifelsohne senden diese das richtige Signal: Hier geht es um etwas Ernstes, um unser kollektives Schicksal.

Wir leben in einer repräsentativen Demokratie. Das heißt aber nicht: Das Volk muss draußen bleiben

Unsere Demokratie ist eine repräsentative – das heißt jedoch keineswegs, dass das Volk immer devot außen vor bleiben muss. Die Repräsentanten sind gewählt – aber sie sind auch jederzeit kritisierbar. Silvio Berlusconi verriet viel über sein Demokratieverständnis, als er den Italienern einmal beschied: „Da Sie mich in einer freien Wahl erkoren haben, müssen Sie jetzt schön ruhig sein und mich meinen Job machen lassen.“ Demokratie ist nicht so etwas wie die Bestellung von Regierungsgeschäftsführern alle paar Jahre, sondern ein dynamischer Prozess, in dem idealerweise die Kommunikation zwischen Abgeordneten und Volk nie abreißt.

Jan-Werner Müller ist Politikwissenschaftler und derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin sowie Senior Fellow am Berliner Exzellenzcluster Contestations of the Liberal Script (SCRIPTS).

© picture alliance / Oliver Berg

Deswegen hat Jürgen Habermas recht, wenn er für das Verhältnis von Öffentlichkeit und Parlament das Bild einer Belagerung vorschlägt. Man darf Druck auf die Abgeordneten machen, man darf bestreiten, dass sie in manchen Fragen noch wirklich die öffentliche Meinung verstehen, ohne dass dies zu einer Nötigung der Parlamentarier würde. Allerdings – das ist das Paradoxe an dieser demokratischen Dynamik – darf die Belagerung nie mit der Eroberung der demokratischen Festung enden.

Nicht jeder, der demonstriert, ist gleich "das Volk"

Es geht in einer halbwegs funktionierenden Demokratie schlicht nicht an, als Demonstranten zu behaupten: „Wir sind das Volk“ (oder gar die in Wahlverfahren autorisieren Abgeordneten als Volksverräter zu diffamieren). Wer meint, jeder Protestler sei schon „der Souverän“ in leibhaftiger Gestalt oder könne – wie vergangenes Wochenende geschehen – sein „Hausrecht“ im Reichstag einfordern, hat die repräsentative Demokratie nicht verstanden.

Auch wenn das nicht so knallig klingt, sollten gerade Minderheiten, die sich ignoriert oder vernachlässigt fühlen, eigentlich skandieren: „Wir sind auch das Volk!“

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Die Konfrontation zwischen Bürgern und Parlament ist nicht nur legitim, sondern ein wünschenswerter Teil einer lebendigen Demokratie – und wenn sie sich, ohne Gewalt und Hausfriedensbruchversuche, symbolisch zuspitzen lässt, ist das prinzipiell auch gut so. Man denke an die Mall in Washington. Politischer Aktivismus war hier nicht immer willkommen: Schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts gab es „Märsche auf Washington“ aus verschiedenen Landesteilen; als die Protestierenden endlich in der Hauptstadt ankamen, wurden sie erst gar nicht auf die weiten Wiesen vor dem Kapitol gelassen.

Der US-Kongress wünschte sich einen Arbeitsort leise wie eine Bibliothek. Das höchste Gericht entschied: Versammlungsfreiheit geht vor

Bis in die frühen siebziger Jahre hielten sich die Kongressmitglieder das Volk vom Leibe mit dem Argument, lärmende Demonstranten würden sie bei der konzentrierten Arbeit stören – ein Grund, warum Martin Luther Kings Jr.’s berühmter „March for Jobs and Freedom“ im August 1963 vor dem Lincoln Memorial endete und nicht vor dem Kapitol. 1972 entschied ein Gericht, Versammlungsfreiheit sei wichtiger als ein Gefühl von Ruhe und Ordnung für die Volksvertreter. Die hatten versucht, die Richter mit dem Argument zu überzeugen ihr Arbeitsort sei am ehesten mit Bibliotheken und Krankenhäusern vergleichbar.

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Der Marsch zeigte nicht nur, was von Bürgerrechtlern oft als „die schiere Bedeutung unserer Anzahl“ bezeichnet wurde – also die enorme Mobilisierungskraft des Kampfes für Gleichberechtigung. Er ermöglichte es den Protestierenden auch, untereinander neue, wirkmächtige Kooperationsformen zu finden, ganz im Sinne Hannah Arendts, die meinte, Macht entstehe dadurch, dass Menschen, die verschieden sind, sich aber als Gleiche behandeln, auf friedliche Weise zusammenwirken.

Ein großer, unbebauter, idealerweise auch gar nicht landschaftlich detailliert gestalteter Platz vor einem Parlament kann also in der Demokratie eine wichtige Funktion haben. Er muss den Bürgerinnen und Bürgern offenstehen (und nicht, wie etwa der Platz vor dem Londoner Stadtparlament, einem kuwaitischen Investitionsfond gehören, der Zugang und Verhalten reglementieren darf).

Die Architektur und Gestaltung des Regierungsviertels in Berlin setzen auf Transparenz und Disruption

Diese Offenheit ist wichtiger als die viel gepriesene Transparenz von Norman Fosters Glaskuppel oder der jetzt von Politikern beschworene Imperativ, die Sicht auf den Reichstag unverstellt zu lassen (der mehr mit den Ansprüchen Selfie-versessener Touristen zu tun als mit demokratischer Symbolik).

Fosters Kuppel, welche es dem Volk erlaubt, seinen Vertretern aufs Dach zu steigen und beim Debattieren zuzugucken, ist eine jedem verständliche Geste. Aber es ist gar nicht so klar, dass Transparenz wirklich etwas spezifisch Demokratisches ist; die berühmte Casa del Fascio in Como war in vielen Teilen durchsichtig (und die damals revolutionären automatischen Glastüren wurden dafür gepriesen, dass sie die direkte Verbindung mit dem Volk erlaubten).

Dass Demokratie keine Darbietung für passive Zuschauer ist, sondern etwas Disruptives hat, wird viel besser von zwei wenig beachteten Elementen auf dem Berliner Regierungsgelände verdeutlicht: den fast schon aggressiv in den Abgeordnetensaal hineinragenden Zuschauertribünen (man könnte gar auf den Gedanken kommen, hier stürmten die Bürger herein) sowie die Straße, die von außen ins Innere des Paul Löbe-Hauses symbolisch verlängert wird.

Robespierrre wünschte sich für die Nationalversammlung eine Galerie für 12.000 Menschen

Robespierre wünschte sich einst eine Galerie in der Nationalversammlung für 12 000 Menschen. Das ist kein Parlament, sondern ein Fußballstadion für einen Verein der dritten oder vierten Liga. Aber die Grundintention – man muss die Präsenz des Volkes spüren, ohne dass sich einzelne Bürger an die Stelle der Vertreter setzen – bleibt gültig.

Dieser Imperativ ist bei deutschen Gesetzgebern stets auf Skepsis gestoßen: Bannmeilen wurden nicht nur mit dem Argument gerechtfertigt, dass die Abgeordneten nicht gestört werden sollten. Man fürchtete auch „psychischen Druck“ auf die Parlamentarier. Andere Demokratien haben solche Ängste nicht und funktionieren ohne „befriedete Bezirke“, wie die Bereiche mit Demonstrationsverbot offiziell heißen. Man darf fragen, ob ein imaginierter Sturm auf den Reichstag heute wirklich mehr psychischen Druck ausübt als die Internet-Shitstorms, die immer wieder über Abgeordnete hinwegfegen.

Es braucht einen Platz für die Belagerung

Es ist heute so gut wie vergessen, dass Axel Schultes ein „Bürgerforum“ vor dem Bundeskanzleramt geplant hatte. Gebaut worden ist es nie, stattdessen findet man einen toten Raum mit Straßen und Trampelpfaden. Demonstrieren dürfen die Bürger, wenn überhaupt, heute nur während der sitzungsfreien Zeit. Doch was ist der Sinn von Nachrichten an die Volksvertreter, wenn die Adressaten gar nicht vor Ort sind?

Dass viele Menschen den Bundestag auch während der Sitzung besuchen, ist schön – aber Besucher sind eben keine (friedlichen) Belagerer.

Der Graben mag seine Berechtigung haben, ebenso wie mehr Polizeiaufgebot in einem Zeitalter, in dem Politiker von Rechtsextremem buchstäblich zum Abschuss freigegeben worden sind. Aber die Antwort auf das ungute Gefühl, dass sich angesichts solcher Schutz- und Abstandsmaßnahmen bei Demokraten einstellt, sollte nicht mit mehr Glas und schönen Postkartenblicken beantwortet werden.

Die Frage wäre, ob nicht mehr Platz auch innerhalb dessen, was heute befriedeter Bezirk ist, geschaffen werden kann für Bürgerinnen und Bürger, die ihre demokratischen Bauten belagern, aber nicht einnehmen möchten.

Jan-Werner Müller

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