
© Illustration: Reiner Schwalme
Anti-Terror-Gesetzgebung: Schleichende Normalität
20 Jahre nach 9/11 gehören die deutschen Anti-Terror-Gesetze auf den Prüfstand. Die Ampel bekommtt auch da einiges zu tun. Ein Gastbeitrag.
Stand:
Hendrik Hegemann ist Wissenschaftlicher Referent im Forschungsbereich Gesellschaftlicher Frieden und Innere Sicherheit an der Universität Hamburg.
Zum 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 diskutierte man vor allem über den gescheiterten Afghanistan-Einsatz. Ähnlich folgenreich war aber der Paradigmenwechsel in der nationalen Sicherheitsgesetzgebung in Deutschland, der den Anschlägen folgte. Die politischen Reaktionen auf 9/11 und nachfolgende Terrorakte haben das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit nachhaltig verändert.
Viele der beschlossenen Maßnahmen sind für Millionen von Menschen im Alltag nach wie vor sichtbar, etwa bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen. Andere sind nicht unmittelbar spürbar, schneiden aber dennoch tief in zentrale Grund- und Freiheitsrechte ein, zum Beispiel durch die Überwachung von Telekommunikationsdaten.
Viele Menschen scheinen sich an diese neue Normalität gewöhnt zu haben. Die Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit vieler dieser Maßnahmen bleibt allerdings umstritten. Untersuchungen zeigen etwa immer wieder, dass sich geplante Anschläge viel effektiver durch klassische Ermittlungsarbeit und eine gute Ausstattung der Sicherheitsbehörden aufdecken lassen als durch die anlasslose Speicherung der Daten aller Bürger.
Sogar verschlüsselte Messenger dürfen ausgelesen werden
Über zwei Jahrzehnte hat die Bundesregierung auf neue Anschläge quasi reflexhaft mit neuen Gesetzen reagiert. Vor allem erweiterte sie die Befugnisse zur präventiven Erfassung, Speicherung und Auswertung unterschiedlichster Daten. Sicherheitsbehörden erhalten seitdem Einblick in unsere Telekommunikation, Kontostände oder Flugdaten.
Inzwischen dürfen Polizei und Nachrichtendienste verschlüsselte Kommunikation über Messengerdienste wie WhatsApp oder Signal überwachen. Schritt für Schritt und für die Öffentlichkeit nicht immer gleich bemerkbar wurden so die Befugnisse der Sicherheitsbehörden immer weiter ausgedehnt. Einmal in Kraft getreten, werden bestehende Regelungen aber nur selten grundsätzlich hinterfragt oder gar zurückgenommen.
Viele Anti-Terror-Gesetze waren zunächst zeitlich befristet. Sie sollten zu einem späteren Zeitpunkt überprüft werden. Doch die meisten dieser Regelungen sind heute immer noch in Kraft. So hat der Bundestag im November 2020 die Regeln des Terrorismusbekämpfungsgesetzes endgültig entfristet. Ohne größeres öffentliches Aufsehen wurden sie in dauerhaftes Recht überführt.
Wo diese und andere gesetzliche Regelungen offiziell evaluiert wurden, erfolgte die letztliche Beurteilung meist durch die Sicherheitsbehörden selbst. Und diese schauten meist nur darauf, wie sich die einzelnen Maßnahmen praktisch umsetzen lassen oder wie oft sie zum Einsatz kamen. So drängt sich der Eindruck auf, dass die Evaluierung der Anti-Terror-Maßnahmen reine Symbolik war und dazu dienen sollte, umstrittene politische Entscheidungen nachträglich zu legitimieren.
Gerichte können nicht alles entscheiden
Ohne ein Umdenken wird der Berg an Regelungen immer weiter anwachsen. Die Beschränkung und Kontrolle der Sicherheitsgesetzgebung sollte nicht vollständig an die Gerichte ausgelagert werden. Die Anti-Terror-Gesetzgebung dringend einen politischen Neustart. Die neue Bundesregierung und der neue Bundestag sind hier gefordert.
Notwendig sind vor allem drei Schritte. Erstens sollten solange keine neuen Sicherheitsgesetze verabschiedet werden, bis die bereits bestehenden Regelungen einmal grundsätzlich überprüft worden sind. Zweitens sollte unabhängig evaluiert werden, wie wirksam die Maßnahmen bislang wirklich waren und ob sie verhältnismäßig sind. Dies gilt insbesondere für die Gesetze, die maßgeblich in unsere Grund- und Freiheitsechte eingreifen. Diese Beurteilung sollte nicht durch die Sicherheitsbehörden selbst erfolgen.
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Bei der Überprüfung der bisherigen Anti-Terror-Gesetze sollte zwingend darauf geschaut werden, wie sich die einzelnen Maßnahmen zueinander verhalten und inwiefern sie das Gesamtausmaß der Freiheitsbeschränkungen weiter erhöhen. Und drittens können diese Schritte nur dann zu einem wirklichen Neustart führen, wenn Regierung, Parlament und Sicherheitsbehörden bereit sind, öffentlich und transparent Alternativen zu den vorhandenen Regelungen zu diskutieren.
Dies setzt voraus, dass dabei auch Ergebnisse herauskommen können, die zuvor nicht bereits feststanden. Eine rein symbolische Debatte, die bekannte Meinungsunterschiede einfach reproduziert, ist 20 Jahre nach 9/11 nicht ausreichend.
Hendrik Hegemann
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