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Sind sich über die Zukunft Europas gar nicht einig: Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD, links) und Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU).

© REUTERS

Europas Zukunft nach dem Brexit: Soll die EU eine echte Regierung bekommen?

Das Brexit-Votum wirft Fragen nach der Zukunft der EU auf. Aus den Regierungsparteien sind viele Vorschläge zu hören, die sich teils widersprechen. Besonders vielstimmig: die SPD.

Von Hans Monath

Debatten um die Zukunft der Europäischen Union haben in Deutschland eine lange Tradition. Und sie wirken auch auf andere Europäer, vor allem, wenn sie von Regierungsvertretern stammen. Das war so, als Wolfgang Schäuble und Karl Lamers (beide CDU) 1994 in einem Papier für ein Kerneuropa plädierten, das sich schneller integrieren sollte als der Rest Europas. Das gleiche Phänomen war zu beobachten, als der grüne Außenminister Joschka Fischer im Mai 2000 in einer Rede vor der Humboldt-Universität dem Nationalstaat in Europa nur noch eine untergeordnete Rolle zuwies ("Vom Staatenbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der europäischen Integration").

Nun hat der Austrittswunsch der Briten innerhalb von Tagen neue Vorschläge aus Deutschland provoziert. Da ist zum einen der Ruf der SPD nach Investitionen der EU in Bildung und Zukunft mit harten Attacken auf die "Austeritätspolitik" der Kanzlerin. Die Massivität der Forderung und die unverblümte Schuldzuweisung für Fehlentwicklungen an die Kanzlerin deuten schon auf den Bundestagswahlkampf hin. Entsprechend rau ist der Ton, in dem Finanzminister Schäuble die SPD-Vorschläge zurückwies.

Daneben steht eine neue Debatte über mehr Integration der EU. Leitfrage: Muss Brüssel nun mehr Macht übertragen bekommen, müssen die Nationalstaaten weiter Zuständigkeiten abgeben?

Anders als im Streit um einen sozialen Neustart der EU zeigt sich die SPD in der Debatte über mehr oder weniger Integration völlig uneins: Parteichef Sigmar Gabriel will etwas anderes als EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, und der etwas anderes als Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Die Vielstimmigkeit spricht jedenfalls nicht dafür, dass die neuen Vorschläge untereinander abgestimmt worden sind.

Den jüngsten Beitrag lieferte Schulz. Er forderte in der "FAZ" den Umbau der EU-Kommission zu "einer echten europäischen Regierung", die "der parlamentarischen Kontrolle des Europaparlaments und einer zweiten Kammer, bestehend aus Vertretern der Mitgliedstaaten, unterworfen" sei. Mit anderen Worten: Die EU soll eine Art Bundesrat erhalten. Schulz’ Hoffnung: Der Umbau werde Vertrauen in die EU aufbauen, weil die Konstruktion den Menschen aus ihren Nationalstaaten bekannt sei und "politische Verantwortlichkeit auf EU-Ebene transparenter" mache.

Schulz hatte vor einer Woche schon gemeinsam mit Gabriel ein weniger detailliertes Plädoyer für einen institutionellen Umbau der EU vorgelegt. Allerdings ist der Parteichef inzwischen auf Distanz zu Vertiefungsforderungen gegangen, plädiert aber für eine Verkleinerung der EU-Kommission.

Gegen einen Umbau der EU-Institutionen ist Steinmeier. Er hatte nach dem Brexit gemeinsam mit seinem französischen Kollegen Marc Ayrault einen Plan für eine engere Zusammenarbeit auf den Feldern Sicherheit, Verteidigung und Migration veröffentlicht, die ohne Vertragsänderung möglich ist. Die Antwort auf den Brexit könne "weder in einem einfachen Rufen nach ,mehr Europa’, noch in einer bloßen Reflexionsphase bestehen", schreiben sie. Die EU müsste sich auf "jene Herausforderungen konzentrieren, die nur durch gemeinsame europäische Antworten bewältigt werden können". Alle anderen Themen müssten nationalen oder regionalen Entscheidungen überlassen werden. Dabei könnten Deutschland und Frankreich mit gleichgesinnten EU-Staaten "vorangehen".

Finanzminister Schäuble plädiert dafür, notfalls mehr Entscheidungen wieder auf die zwischenstaatliche Ebene zu verlagern, und begründet dies damit, dass viele EU-Verfahren in der Krise zu lange dauerten. "Wir müssen in Europa schneller sichtbare Ergebnisse liefern", meinte er. Grundsätzlich sei er für eine Vertiefung der EU, doch sei angesichts wachsender Demagogie und tiefer Europa-Skepsis dafür "jetzt nicht die Zeit".

Auch aus der Wissenschaft gibt es nun Stimmen, die vor einer neuen Vertiefungsdebatte warnen. So integrationsorientiert wie Deutschland sei kein anderes EU-Mitglied, meint etwa der in Princeton lehrende Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller. Die EU-Staatschefs müssten nun erkennen, "dass die Bürger Europas einfach nicht bereit sind für mehr Integration und dass die EU langsamer werden muss". Auch der Göttinger Staatsrechtler Hans Michael Heinig warnt davor, die EU zu einem "eschatologischen Heilsakt" zu überhöhen, denn das provoziere Gegenreaktionen. Wer nach dem Brexit reflexartig nach mehr Integration rufe, wirke "eigenartig unbelehrbar und durch Wahlen und Abstimmungen nicht mehr erreichbar".

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