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Unversöhnlich. Palästinensische Demonstranten in Nablus protestieren vor israelischen Soldaten gegen den Bau einer neuen Straße für jüdische Siedler in der besetzten West-Bank (25. August 2021).

© imago images/ZUMA Wire

Stachel Palästina: Netanjahu und die neun Zwerge

Das spalterische Erbe des verdrängten israelischen Ministerpräsidenten lastet schwer auf der neuen Regierung. Ein Gastbeitrag.

Odeh Bisharat, geboren 1956, ist Kolumnist der „Haaretz“ und Romanautor. Am 4. September um 18 Uhr tritt er zusammen mit Lizzie Doron und Antje Rávik Strubel im Literaturhaus Berlin auf. Das Panel ist Teil der deutsch-israelischen Literaturtage, die am 1. September im Deutschen Theater eröffnet werden. Mehr über die einzelnen Veranstaltungen und Streams unter www.boell.de/literaturtage. Markus Lemke hat Bisharats hier gekürzt erscheinenden Essay aus dem Hebräischen übersetzt.

In einem berühmten Rätsel geht es darum, einen Wolf, ein Schaf und einen Kohlkopf von einer Seite eines Flusses auf die andere zu bringen, wobei das Boot des Fährmanns jedes Mal nur einen von ihnen mitnehmen kann. Lässt man den Wolf und das Schaf zurück, werden wir Letzteres nie wieder sehen. Lassen wir aber den Kohlkopf in Gesellschaft des Schafes, wird er alsbald im Magen des Tieres landen.

Die Herausforderung dieses Rätsels ist ein Kinderspiel gegen die Situation, in der jene neun Klein- und Kleinstparteien stecken, die sich zum Ziel gesetzt haben, eine Regierung ohne Benjamin Netanjahu zu bilden. Das Anti-Netanjahu-Lager vereint Parteien des linken Spektrums, des Zentrums, der Rechten und extremen Rechten. Und Parteien, die ihr Hauptwählerpotenuial in der arabischen Bevölkerung Israels haben.

Theoretisch hätte Netanjahu sich die Unterstützung von 65 Abgeordneten der Knesset (und damit eine stabile Mehrheit unter den insgesamt 120 Mitgliedern des Parlaments) aus den Reihen der Rechten und Orthodoxen sichern können. Das Problem allerdings ist, dass Netanjahu daran gearbeitet hat, sich auch im rechten Lager Feinde zu machen.

Einziges Ziel: Ablösung

Gideon Sa’ar zum Beispiel, ehemals eine der Stützen von Netanjahus Likud, gründete eine neue Partei, deren vornehmliches, wenn nicht einziges Ziel die Ablösung Netanjahus war. Nicht etwa wegen dessen politischer Positionen, sondern wegen seines aggressiven Verhaltens. Und so schmolz Netanjahus Block auf 58 Abgeordnete zusammen. Als dann die arabische Ra’am-Partei sich von Netanjahu umgarnen ließ und Teil seines Lagers werden wollte, erhob sich lautes Geschrei auf dem extremen rechten Flügel.

Dies war das erste Mal in der Geschichte des israelischen Staates, dass sich ein Politiker im Range eines Ministerpräsidenten einer Partei mit politischen Inhalten andient, die an die Rassengesetze erinnern: So wandte sich der Vorsitzende der Partei Hazionut Hadatit (Der Religiöse Zionismus), Bezalel Smotrich, vehement gegen die Vorstellung, seine Frau könnte im Krankenhaus mit einer Araberin dieselbe Entbindungsstation teilen. Was man nicht alles tut, um die „Reinheit der Rasse“ zu bewahren, in diesem Fall der „jüdischen Rasse“. Und sein Parteigenosse Itamar Ben-Gvir erschien auf einer Demonstration mit der Losung, es heiße „Den arabischen Feind zu vertreiben“.

Nach der Staatsgründung waren lediglich 150000 Araber im Lande verblieben. Auf dem Papier galten sie als vollwertige Staatsbürger Israels, de facto jedoch standen sie in den ersten Jahren unter Kriegsrecht und mussten erleben, wie ihre Besitzungen in Staatseigentum übergingen. Ben-Gurion, erster Premierminister und Vorsitzender von Israels damals allmächtiger Regierungspartei, betrachtete die Araber als bloßes Stimmenreservoir im Wahlkampf gegen die konkurrierende Herut-Partei.

Vertriebene und traumatisierte Palästinenser

Nach der Nakba – der Katastrophe – von 1948 wandten sich die vertriebenen und traumatisierten Palästinenser von den zionistischen Parteien ab und begannen, arabische und fortschrittlich gesinnte jüdische Parteien zu unterstützen. Im Laufe der Zeit wuchs die elektorale Kraft der Araber kontinuierlich, bis sie bei den vorletzten Wahlen im April 2020 insgesamt 15 Mandate erringen konnten. Doch das ethnische Virus, an dem einige jüdische Knessetabgeordnete aus dem Anti-Netanjahu-Lager litten, verhinderte letztendlich den Umschwung, da sie es ablehnten, eine von der Gemeinsamen Arabischen Liste gestützte Regierung zu bilden.

Vor annähernd 30 Jahren bildete Ministerpräsident Yitzhak Rabin eine Regierung, die von den arabischen Knessetabgeordneten und ihren jüdischen Verbündeten gestützt wurde, was letztendlich zum Oslo-Vertrag führte und eine neue Seite im Verhältnis zu den Palästinensern aufschlug. Die drei Kugeln des rechtsextremen Attentäters Jigal Amir setzten nicht nur Rabins Leben ein Ende, sondern auch seinem politischen Weg, dem geplanten Rückzug Israels aus Teilen der besetzten Gebiete.

Oppositionsführer war vor gut 30 Jahren Benjamin Netanjahu. Uns allen ist erinnerlich, wie Netanjahu vom Balkon seine Rede hält, während seine Anhänger auf dem Zion-Platz in Jerusalem Bilder von Rabin in SS-Uniform in die Höhe recken. Kurze Zeit nach dem Mord, am Vorabend seiner Wahl zum Ministerpräsidenten, bemühte Netanjahu den rassistischen Slogan „Netanjahu ist gut für die Juden“.

Warnung vor dem inneren Feind

20 Jahre später, bei den Wahlen 2015, schlug er noch am Wahltag Alarm: „Die Araber strömen in Scharen zu den Wahlurnen“, was den Appell implizierte, den Staat vor dem inneren arabischen „Feind“ zu retten. So errang er zusätzliche Mandate, die ihm einen Verbleib an der Macht sicherten. Demokratie indes basiert auf dem Prinzip des Machtwechsels.

Netanjahu hat bis zuletzt erfolgreich jede Alternative, die ihm die Stirne bot, auf zwei unterschiedlichen Wegen eliminiert. Erstens: mit Hetze. Die arabischen Abgeordneten bezeichnete er beständig als „Terrorunterstützer“, und wer wagte, mit ihnen zusammenzuarbeiten, den verunglimpften seine Anhänger ebenfalls als „Terrorhelfer“ und „Fünfte Kolonne“.

Zweitens: mit Sektiererei. Noch jede konkurrierende Partei, die sich mit ihm einließ, ging am Ende zerstritten aus der Liaison hervor. Netanjahu machte stets den Schwachpunkt beim Gegner aus, umgarnte ihn, führte ihn in die Irre, zog ihn in die eigenen Reihen und warf ihn am Ende so gut wie leblos wieder von sich. Er pulverisierte die Arbeitspartei; Kadima, einstmals Regierungspartei, existiert schon nicht mehr; und Kachol Lavan (Blau Weiß), bei den vorletzten Wahlen noch größte Partei des Landes, schrumpfte auf lediglich sieben Mandate zusammen.

Netanjahu ist es auch  gelungen, den Arabern eine Spaltung zu bescheren, indem er die Ra’am-Partei unter falschen Versprechungen aus der Mutterliste, der „Vereinten“, herauslöste. Weshalb die Vereinte Arabische Listein der gegenwärtigen Knesset auf zehn Mandate zurückfiel.

Nachhaltiger Schaden

Man kann sagen, Netanjahu hat das politische System in Israel nachhaltig beschädigt. Alle misstrauen allen. Den einen hat er gekauft, den zweiten mit einem Bann belegt. Der irakische Dichter Mudhaffar al-Nawab hat einmal geschrieben von einem „finsteren Keller, in dem ein Skorpion dem anderen nicht über den Weg traut“.

Am Vorabend der Bildung der neuen Regierung wirkte Netanjahu wie ein Riese, der gegen Zwerge kämpft. Den 58 auf ihn eingeschworenen Knesset-Abgeordneten standen neun kleine und kleinste Parteien gegenüber, von denen die größte – Yesh Atid (Es gibt eine Zukunft) – dem Riesen kaum bis zur Hüfte geht, während alle übrigen Zwerge nicht einmal an seine Knie heranragen. Doch es wartete eine Überraschung auf Netanjahu. Wie sich herausstellte können auch Zwergesiegreich sein. Ähnlich wie in Gullivers Reise nach Liliput fesselten sie Netanjahu und bereiteten eine Regierungsbildung vor.

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An der Koalition zur neuen Regierung sind acht Parteien beteiligt, acht Zwerge, doch ohne den neunten im Bunde, sprich: die „Vereinte“, welche die arabische Öffentlichkeit in Israel vertritt, wäre es schwer bis unmöglich, dieser Regierung eine Perspektive zu geben. Doch selbst Teil dieser Regierung zu sein, kommt für die „Vereinte“ wegen der anhaltenden Besetzung nicht in Betracht.

Dieses Dilemma erklärt sich wie folgt: Grob gesprochen gemahnt die israelische Regierung an Haus und Keller. Im hell erleuchteten Haus wird das Leben der arabischen und jüdischen Bürger des Staates geregelt, und es ist gut und richtig, dass die Vertreter der Araber daran beteiligt sind. Unten hingegen, im dunklen Keller werden Besetzung und Gefangennahme des palästinensischen Volkes verwaltet, und jeder jüdische oder arabische Demokrat sollte sich von dort fernhalten.

Die Errichtung der neuen Regierung markiert eine Rückkehr zur Normalität. Doch damit ist erst die halbe Arbeit getan. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, die Besetzung zu beenden, die Einsperrung und Unterdrückung eines anderen Volkes. Gelingt dies nicht, werden wir zum Ausgangspunkt zurückkehren, als sei nichts gewesen.

Odeh Bisharat

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