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Woran fehlt es armen Kindern: an Chancen und Bildung, an Geld – oder an beidem?

© Imago/Westend61

Streit um die Grundsicherung: „Wir als FDP haben ein Herz für Kinder“

FDP-Sozialpolitiker Jens Teutrine über Stimmungsmache mit Armutsstatistik, Lisa Paus’ Versäumnisse und die Frage, was tatsächlich für benachteiligte Kinder getan werden muss.

Herr Teutrine, ein Fünftel der Kinder gilt als armutsgefährdet. Wird mit solchen Zahlen unsachlich Stimmung gemacht?
Es ist mir ein Herzensanliegen, dass Politik Kindern, die in Armut aufwachsen, mehr Perspektiven, Chancen und soziale Teilhabe ermöglicht. Damit man im Kampf gegen Kinderarmut aber wirksame und treffsichere Lösungen nutzt, braucht es erst mal eine genaue Betrachtung der Problemlage. Deswegen sollten Zahlen nicht falsch interpretiert oder sogar umgedeutet werden, um zu politisieren.

Gerechnet wird wie folgt: Als arm oder auch armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens zur Verfügung hat.
Diese Definition von Armutsgefährdung ist verbreitet und geht auf eine EU-Konvention zurück. Aber die Definition ist auch umstritten, weil sie durchaus Schwachstellen hat. Diese Daten haben wenig damit zu tun, was Menschen sich landläufig unter Armut vorstellen. Es geht dabei um relative Armut.

Was ist damit gemeint?
Es geht darum, wie hoch mein Einkommen im Verhältnis zu den Einkommen anderer Menschen ist. Wenn sich alle Einkommen verdoppeln oder sogar verzehnfachen würden, bliebe die Anzahl armer oder armutsgefährdeter Menschen in Deutschland nach dieser statistischen Methode gleich, obwohl sie faktisch deutlich mehr Geld zur Verfügung hätten. Außerdem gibt es viele Grauzonen. Es geht mir nicht darum, Armut zu negieren. Das Problem ist aber: Wenn ich nicht treffsicher analysiere, kann ich den Sozialstaat auch nicht so aufstellen, dass er diejenigen gut unterstützt, die Hilfe benötigen.

Dagegen ist das Bürgergeld eine Fingerübung.

Jens Teutrine über die Komplexität der Kindergrundsicherung

Gäbe es bessere Wege, Armut zu definieren?
Da gibt es durchaus andere Methoden. Zum Beispiel lassen sich Kriterien von konkreten Mängeln definieren, also etwa, wenn jemand Miete oder Rechnungen nicht rechtzeitig bezahlen kann, wie oft jemand keine warme Mahlzeit hat, in welchem Umfang er Freizeitaktivitäten nicht verfolgen kann oder aus finanziellen Gründen nicht geheizt werden kann. Wer eine gewisse Anzahl dieser Kriterien erfüllt, lebt in Armut. Nimmt man diese Definition, hat sich Armut in den letzten Jahren in Deutschland fast halbiert. Aber auch dieses Konzept kann man kritisieren.

Die Daten zeigen: Der etablierten Rechenweise zufolge sind immer mehr Kinder von Armut betroffen oder bedroht.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband sprach zuletzt von einem Rekordhoch der Armut, dabei hat sogar das Statistische Bundesamt gesagt, diese Zahlen seien wegen einer Änderung der Methodik nur noch sehr eingeschränkt mit denen des Vorjahres vergleichbar. Und es lohnt sich auch immer ein genauer Blick in die Statistik, statt nur Zeitungsüberschriften aufzugreifen: Die Zahl deutscher Kinder in Bürgergeldhaushalten sank seit 2015 um mehr als eine halbe Million. Eine, wie ich finde, sehr erfreuliche Nachricht.

Die Zahl von Kindern aus Asylherkunftsländern und der Ukraine nahm gleichzeitig um mehr als eine halbe Million zu. Ich werbe einfach für mehr Ehrlichkeit in der Debatte, sonst führen unsere Lösungen am Problem vorbei. Ich finde, Kinder in Armut haben es verdient, dass Politik sich nicht nur oberflächlich mit dem Thema beschäftigt. Übrigens sind das auch alles sehr abstrakte Analysen. Um einen Eindruck von Armut zu bekommen, hilft es auch, mit Betroffenen zu sprechen. Ich mache das regelmäßig.

Zuletzt wurde bei der Einführung des Bürgergelds darüber diskutiert, wo Armut eigentlich beginnt. Was lässt sich aus dieser Debatte lernen?
Dass es eine sehr hohe gesellschaftliche Sensibilität für die Frage des Lohnabstands gibt. Ich finde, zu Recht. Die Debatte wurde zum Teil unsäglich geführt, dennoch bleibt – übertragen auf die Kindergrundsicherung – richtig: Es muss für eine Familie einen finanziellen Unterschied machen, ob die Eltern arbeiten oder nicht. Für die Bildungs- und Aufstiegschancen von Kindern darf es allerdings keinen Unterschied machen – und hier sind wir an dem Knackpunkt der Debatte. Vereinbart war eine interministerielle Arbeitsgruppe unter Federführung des Familienministeriums zu diesem Thema, de facto tut sich da aber bisher nichts.

Ministerin Paus betont immer wieder, sie habe ein Konzept für die Kindergrundsicherung vorgelegt. Was halten Sie davon?
Frau Paus hat ein Eckpunktepapier vorgelegt, aber das ist noch lange kein fertiges und funktionierendes Konzept. Wenn man die Kindergrundsicherung ernsthaft angeht, wird das die komplexeste Sozialstaatsreform, die man machen kann. Dagegen ist das Bürgergeld eine Fingerübung. Bei der Kindergrundsicherung geht es um verschiedene staatliche Ebenen, verschiedene Behörden, verschiedene Leistungen mit Wechselwirkungen untereinander. Das ist enorm anspruchsvoll. Ich finde diesen Anspruch sehr gut, aber dann bräuchte es auch eine Diskussionsgrundlage, die dem gerecht wird. Das sehe ich nicht.

Was fehlt Ihnen?
Mir fehlt nicht nur, dass der Sozialstaat mit seinen 150 verschiedenen Leistungen deutlich vereinfacht wird, indem Leistungen gebündelt werden, Bürokratie abgebaut und der Zugang verbessert wird. Es gibt im Papier auch keine einzige Angabe, wie hoch eigentlich die Kindergrundsicherung sein soll, wie hoch der Garantiebetrag und der flexible Zusatzbetrag überhaupt sein sollen. Keine Zahl, keine Varianten, nicht einmal eine Größenordnung. Niemand weiß, wie viel soll ein Kind bekommen, dessen Eltern heute beispielsweise Bürgergeld, Wohngeld oder den Kinderzuschlag erhalten.

Keine Zahl, keine Varianten, nicht einmal eine Größenordnung.

Jens Teutrine über seine Kritik an Lisa Paus’ Eckpunktepapier

Wofür bräuchte es diese Zahlen?
Zum Beispiel um das Ziel der Kindergrundsicherung messbar zu machen: Wie viele der knapp drei Millionen armutsgefährdeten Kinder in Deutschland können wir mit den 12 Milliarden Euro Mehrausgaben, die Lisa Paus nach eigener Einschätzung angeblich braucht, eigentlich aus der Armut befreien? Ich wüsste nicht, dass das jemand beantworten könnte. Wenn das System weiter so bürokratisch bleibt, wird viel Geld versickern, aber nicht ankommen. Dann bekommen zwar die 30 Prozent der Kinder mehr Geld, die die Leistungen heute schon erhalten, aber 70 Prozent fallen weiterhin durch das Raster.

Glauben Sie tatsächlich, dass es ohne mehr Geld im System geht?
Ich will nicht negieren, dass es Kinderarmut gibt. Es gibt in Deutschland Kinder, die gehen mit leerem Magen zur Schule und können nicht in den Sportverein. Das führt zu Ausgrenzung und fehlender sozialer Teilhabe. Fast nirgendwo sonst bestimmt die familiäre Herkunft den Lebensweg so wie in Deutschland. Im Land der sozialen Marktwirtschaft mit ihren Aufstiegsversprechen ist das eigentlich der größte Gerechtigkeitsskandal. Daran sollten wir die Debatte orientieren.

Was schlussfolgern Sie daraus?
Mein Ziel wäre, die Probleme des Sozialstaates zu lösen. Das Problem ist weder, dass der Finanzminister zu knickrig, noch dass der Sozialstaat unterfinanziert ist. Wir geben insgesamt mehr als 1 Billion Euro unserer Wirtschaftsleistung für Soziales aus, knapp ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts.

Das Problem ist ein anderes: Der Sozialstaat ist dysfunktional. Wir treffen nicht zielgenau diejenigen, die wirklich Unterstützung brauchen. Anstatt immer nur über Geldsummen und höhere Leistungen zu sprechen, würde ich mir wünschen, dass wir über die strukturellen Probleme des Sozialstaats sprechen und auch über das beste Mittel gegen Kinderarmut: ein chancengerechtes und besseres Bildungssystem.

Sie will die Reform: Familienministerin Lisa Paus (Grüne).
Sie will die Reform: Familienministerin Lisa Paus (Grüne).

© Nassim Rad/Tagesspiegel

Lisa Paus will das soziokulturelle Existenzminimum neu definieren. So steht es auch im Koalitionsvertrag. Hält sich die FDP daran?
Im Koalitionsvertrag sind auch die Bündelung der vielen Leistungen und ein digitales Portal vereinbart. Als Allererstes bräuchte es einen Vorschlag, wie diese Neuberechnung denn aussehen soll. Den gibt es aber bis heute nicht. Klar ist, dass es Menschen gibt, die unverschuldet in Not sind und die Hilfe brauchen. Wir reden über eine sehr große Bandbreite von Zielgruppen, das macht die Debatte so schwierig.

Was sind die Extreme?
Auf der einen Seite geht es um Kinder, die beispielsweise ohne Eltern aufwachsen, dann um welche, deren Eltern nicht arbeiten können, die also im Leistungsbezug aufwachsen. Da ist die größte Baustelle die soziale Mobilität und Teilhabe. Dann sprechen wir über Eltern, die arbeiten, aber bei denen das Einkommen nicht ausreicht, sodass sie ergänzend Bürgergeld, Wohngeld oder Kinderzuschlag erhalten. Das sind sehr viele alleinerziehende Mütter.

Viele wissen nicht, dass sie leistungsberechtigt sind, oder kommen nicht an die Leistung, weil das System zu kompliziert ist. Übrigens gibt es auch Eltern, die wollen keine Leistung vom Staat. Die wollen den Kindern ausschließlich durch eigene Arbeit einen gewissen Lebensstandard ermöglichen. Also wäre auch eine Debatte über weniger Steuern und insbesondere Abgaben angebracht. Über all das sprechen wir und da gibt es sehr viel zu tun.

Wer glaubt, die Kindergrundsicherung ist ein Erfolg, wenn sie viel kostet, der sieht die Probleme des Sozialstaats nicht.

Jens Teutrine über das Großprojekt von Familienministerin Paus

Wo sollte die Politik ansetzen?
Man kann die Symptome bekämpfen oder man geht an die Ursache. Die beste Armutsbekämpfung ist und bleibt Bildung. Und ich sage es ganz klar, der Hinweis von Christian Lindner, es müsse auch darum gehen, erwerbsfähigen Erwachsenen die Integration in den Arbeitsmarkt zu erleichtern, muss erlaubt sein und darf nicht als Unverschämtheit abgetan werden. Es stimmt, dass das nicht für alle eine Lösung ist. Ich sprach von Kindern ohne Eltern oder mit kranken Eltern. Aber auch das trifft nicht auf alle zu. Wir wissen empirisch, dass das Armutsrisiko von Kindern an die Erwerbstätigkeit der Eltern kausal gekoppelt ist.

Trotzdem bleibt von Ihrer Partei der Eindruck: Da fehlt das Herz für Kinder.
Ganz ausdrücklich: Kinder und Jugendliche können nichts für die Lebenssituation, in der sie stecken. Wir als FDP haben ein Herz für Kinder, und wir haben überhaupt nichts dagegen, für diese Kinder und Jugendlichen etwas zu tun. Aber gut gemeint ist eben nicht immer gut gemacht. Ich glaube nicht daran, dass mehr Geld die Probleme löst, sondern ich möchte endlich wirksame Unterstützung. Daran muss sich die Kindergrundsicherung messen. Wer glaubt, die Kindergrundsicherung ist ein Erfolg, wenn sie viel kostet, der sieht die Probleme des Sozialstaats nicht.

Die Familienministerin hat diesen Betrag nicht nachvollziehbar hergeleitet.

Jens Teutrine über die Forderung nach 12 Milliarden Euro pro Jahr für die Kindergrundsicherung

Worin bestehen die?
Ich nehme als Beispiel das Bildungs- und Teilhabepaket: Die Antragsstellung ist so kompliziert, dass nicht mal 20 Prozent der Mittel überhaupt abfließen. Wenn ich die Mittel erhöhe, bekommen immer noch 80 Prozent der Zielgruppe nichts. Das muss ganz anders funktionieren. Da braucht es eine App, zu der jeder Jugendliche einen Zugang bekommt. Und dann muss das klappen wie mit einem Warenkorb beim Online-Shopping: Da klicke ich das Fußballtraining an, da kann ich einem Theaterclub beitreten. Wenn wir das intelligent umsetzen, spart es sogar Geld. Denn im Moment gehen beim Bildungs- und Teilhabepaket 30 Prozent der Mittel für die Bürokratie drauf.

Kann es einem FDP-Finanzminister recht sein, wenn gar nicht alle Mittel abgerufen werden?
Christian Lindner hat bereits klargestellt, dass er es sowohl beim Bildungs- und Teilhabepaket als auch beim Kinderzuschlag unterstützen würde, wenn 100 Prozent der Förderung genutzt würde. Da handelt es sich auch schlicht um Rechtsansprüche. Aber selbst für diese beiden Posten bräuchte es nur zwischen drei und fünf Milliarden Euro an Mehrausgaben. Mir ist unklar, wie man von dort auf 12 Milliarden Euro kommt, zumal auch noch der Bürokratieabbau einen Beitrag zur Gegenfinanzierung leisten soll. Und die Familienministerin hat diesen Betrag auch nicht nachvollziehbar hergeleitet.

Christian Lindner argumentiert, das Kindergeld sei erhöht worden. Doch das nützt Familien, die vom Bürgergeld leben, nichts, denn ihnen wird das Kindergeld angerechnet.
Kinder, die in Familien groß werden, die von Bürgergeld leben, erhalten statt Kindergeld einen eigenen Regelsatz. Der ist in der Vergangenheit übrigens schneller und stärker gestiegen als das Kindergeld. Dazu kommt noch der Kindersofortzuschlag von 20 Euro pro Kind und Monat. Es ist schlicht falsch, so zu tun, als hätte Christian Lindner nur Geld übrig für Menschen, die arbeiten.

Wenn andere berichtet haben, sie waren in Ägypten, habe ich von drei Tagen an der Nordsee erzählt.

Jens Teutrine über sein eigenes Aufwachsen als Kind einer alleinerziehenden Mutter

Sie sind selbst in einer Familie aufgewachsen, in der das Geld knapp war. Haben Sie sich als Kind selbst als arm betrachtet?
Statistisch gesehen wäre ich in der Armutsdefinition drin gewesen, aber ich hab das damals nicht so empfunden. Meine Mutter hat sich um vieles gekümmert. Ich war im Judoverein, ich habe Gitarre gespielt, wir waren viel draußen. Meine Mutter hat sich um meine Sprachbehinderung gekümmert und mich auf eine spezielle Schule geschickt, wo ich sehr gut gefördert wurde. Ja, ich habe mich manchmal geschämt. Wenn andere berichtet haben, sie waren in Ägypten, habe ich von drei Tagen an der Nordsee erzählt oder vom Ferienlager mit den Messdienern. Aber es hat sich nicht wie Armut angefühlt.

Hat Ihre Mutter, die alleinerziehend war, Transferleistungen bezogen?
Nein, wahrscheinlich gehörten wir zu den vielen Menschen, die Anspruch gehabt hätten, aber trotzdem kein Geld bezogen. Meine Mutter hat gearbeitet und war sehr stolz darauf, uns durch Arbeit etwas zu ermöglichen. Sie hat mit uns Kindern immer offen darüber gesprochen, was wir uns gerade leisten können und was nicht. Ich habe das als sehr positiv empfunden, und meine Mutter war mein Vorbild.

Welche Perspektive sehen Sie für das Projekt Kindergrundsicherung?
Meine Sorge ist, dass über immer mehr Geld gesprochen wird, aber man gleichzeitig irgendwann feststellt: Die Strukturreform ist so groß, das packen wir nicht. Also geben wir einfach in die bestehenden Strukturen mehr Geld hinein. Das wäre grundfalsch. Die Kinder und Jugendlichen haben funktionierende Strukturen verdient, und der Steuerzahler auch.

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