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Ab 2025 hat der Bundestag noch 630 Sitze.

© dpa/Michael Kappeler

Reform? Revolution? Racheakt? : Streit um Wahlrecht belebt den Bundestag

Union und Linke schäumen vor Wut in der Wahlrechtsdebatte. Die Ampel bleibt gelassen - und macht Angebote für die Zeit nach der Reform.

Ist es an diesem denkwürdigen Freitagmorgen im Bundestag um eine Reform gegangen? Oder eher um eine Revolution? Oder gar einen Racheakt? In jedem Fall ist es in der Debatte zum neuen Wahlrecht um politische Macht gegangen. Doch während die Ampel-Koalition ihr Gesetz damit rechtfertigte, dank ihrer Gestaltungsmacht eine jahrelange Debatte abzuschließen, wie die Sitze im Bundestag am besten zu besetzen sind, sahen Union und Linke vor allem eines: Machtmissbrauch.  

Dass es munter bis hitzig hergehen würde, war absehbar gewesen, seit die Ampel-Koalition am vorigen Montag einen Änderungsantrag angekündigt hatte, mit dem sie ihren seit Januar bekannten Gesetzentwurf für ihre Wahlrechtsreform ergänzte. Vor allem die Entscheidung, die seit Jahrzehnten geltende Grundmandatsklausel im Wahlgesetz zu streichen, führte zu einer Art Schockreaktion bei der Linken und der Union.

Denn es genügten bisher drei Direktmandate, um auch in den Bundestag einzuziehen, wenn eine Partei die Fünfprozenthürde nicht genommen hatte. Deswegen hat die Linke noch immer eine Bundestagsfraktion – 2021 kam sie bundesweit zwar nur auf 4,9 Prozent, hatte aber drei Wahlkreise in Berlin und Leipzig gewonnen.

Die CSU war damals mit 5,2 Prozent bundesweit (bei knapp 32 Prozent in Bayern) nahe dran an der Zweitstimmenhürde. Doch angesichts von 45 der 46 bayerischen Direktmandate war das Netz breit gespannt.

Nun ist es weg. Eine seltene Koalition war so zu erleben an diesem historischen Freitag im Bundestag. „Sie wollen Linke aus dem Parlament drängen und stellen das Existenzrecht der CSU infrage“, wetterte Alexander Dobrindt.

Der CSU-Landesgruppenchef, erkennbar wütend, und zwar ungespielt, sprach von „Wahlrechtsmanipulation“ zum Zweck der Zementierung des Machtanspruchs der Ampel. „Was wir hier erleben, ist keine Reform, sondern ein Akt der Respektlosigkeit gegen Wähler, Opposition und Demokratie.“

Noch wütender agierte Jan Korte, der Parlamentarische Geschäftsführer der Linken (die im Gegensatz zur CSU kein Angebot zur Güte von der Ampel erhielten). Er warf der Regierungskoalition „bigotte Arroganz“ vor und sprach vom „größten Anschlag auf den Grundpfeiler der Demokratie“, nämlich das Wahlrecht. Die Ampel agiere „im Geiste von Orban und Kaczynski“, ihr Vorgehen sei vergleichbar mit „den Tricksereien der Trump-Republikaner“.

Friedrich Merz sprach nicht in der Debatte. Erst am Ende stand er auf, zu einer Kurzintervention von seinem Platz als Fraktionschef der Union aus. Er bat um eine Aussetzung der Abstimmung, Verschiebung um zwei Wochen, um nochmals verhandeln zu können.

„Gesamte Mechanik verändert“

Das Ziel: Rücknahme der Streichung der Grundmandatsklausel. Denn damit habe sich „die gesamte Mechanik der Wahlrechtsreform verändert“, mit Folgen, „die wir zunächst nicht gesehen haben“. Ganze Bundesländer (will heißen: Bayern) wären dann ohne jedes Direktmandat. Und Merz drohte, seine Partei werde jede Gelegenheit nutzen, das wieder zu verändern.

Ab 2025 hat der Bundestag noch 630 Sitze.
Ab 2025 hat der Bundestag noch 630 Sitze.

© dpa/Michael Kappeler

Rolf Mützenich – auch der SPD-Fraktionschef hatte sich in der Debatte zuvor zurückgehalten – antwortete, ruhig, aber direkt. Er ging auf Gespräche hinter den Kulissen in den vergangenen drei Wochen ein, unter den Fraktionsführungen, auch Vier-Augen-Gespräche. Ein breiter Konsens habe sich da nicht ergeben.

Und die Union hatte nach den Worten Mützenichs durchblicken lassen, dass sie die Grundmandatsklausel als Klagegrund in Karlsruhe betrachtet – als „systemwidrigen“ Teil im Ampel-Wahlgesetz. Also, so die unausgesprochene Folge, hat die Koalition sie gestrichen, um das Gesetz verfassungsfester zu machen.

Endpunkt Regionalpartei

Vor allem die CSU hat sich - nicht nur bei der Ampel, sondern auch in Teilen der CDU - über Jahre unbeliebt gemacht als verlässliche Bremserin bei der Wahlrechtsreform. Jede Wahlrechtsdebatte habe in den vergangenen Jahren „ihren Endpunkt“ bei der CSU gehabt, klagte der FDP-Abgeordnete Konstantin Kuhle. Es könne nicht sein, dass eine Regionalpartei wie die CSU mit Blick auf ihre Sonderstellung dem Bundestag diktiere, wie ein Wahlgesetz auszusehen habe, sagte Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann.

Doch die Ampel gab sich nicht nur rachebereit, sondern auch hilfswillig. Haßelmann und Kuhle boten der Union an, nach der Verabschiedung des Gesetzes darüber zu reden, ob und wie die Möglichkeit einer Listenverbindung das Problem der CSU lösen könnte. Doch beim Gesetz an sich ist sie unnachgiebig. Die „Grundsatzentscheidung“ vom Freitag soll nicht Teil weiterer Kompromisse sein.

Nach einer Karlsruher Entscheidung sind Zählgemeinschaften konkurrierender Parteien zum Zweck der Umgehung der Fünfprozenthürde zwar grundgesetzwidrig. Doch könnte sich wohl ein Weg finden lassen, der angesichts der Sondersituation bei CDU und CSU verfassungskonform wäre. Beide Parteien konkurrieren bei Wahlen nicht, die CSU hat sich freiwillig auf Bayern beschränkt, im Bundestag besteht seit Jahrzehnten eine Fraktionsgemeinschaft

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