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Vitales Interesse: In der Oderbruch-Gemeinde Golzow bewahrten syrische Kinder die Grundschule vor der Schließung.

© Patrick Pleul/dpa

Update

Studie der Böll-Stiftung: Brauchen Kommunen mehr Einfluss in der Flüchtlingspolitik?

Migrationsfachleute wollen Gemeinden und Regionen zu mehr Macht in Brüssel verhelfen. Dadurch könnte der Entscheidungsstau in der EU-Asylpolitik gelöst werden.

Das geplante gesamteuropäische Asylsystem kommt seit Jahren nicht voran. Streitpunkt immer wieder: Die Verteilung der Flüchtlinge, die meist an Europas südlichem Rand eintreffen, auf den Rest der Union. Was tun? Eine Gruppe von Migrationsexperten und Regionalwissenschaftlerinnen schlägt vor, da anzusetzen, wo die Menschen von anderswo sowieso hinwollen: In den Städten und Gemeinden der EU.

Interessanterweise gebe es nämlich dort, wo "die größte Last der Integration geschultert wird", die meisten Ansätze für Lösungen und den größten Elan, schreiben Petra Bendel, Hannes Schammann, Christiane Heimann und Janina Stürner in ihrer Studie "Der Weg über die Kommunen", in denen sie im Auftrag der grün-nahen Heinrich-Böll-Stiftung "Empfehlungen für eine neue Schlüsselrolle" der kommunalen Ebene in Europa entwickeln. Am Mittwoch wurde das sogenannte Policy Paper vorgestellt.

Pionierinnen der Integrationspolitik

Nicht nur hätten die Kommunen die längste Erfahrung in der Integration von Neubürgern, so die Regionalwissenschaftlerinnen Bendel und Stürner - Bendel ist Professorin an der Universität Erlangen - und der Hildesheimer Migrationspolitikfachleute Schammann und Heimann. Dort sehen sie auch die Köpfe und Hände jener Zivilgesellschaft, die sich verstärkt seit 2015 praktisch engagiert, um den Neuen den Start zu ermöglichen, wo nationale Flüchtlingspolitik nicht hinreicht. Und die Kommunen hätten in all den Jahrzehnten notgedrungen schon Integrationspolitik gemacht, als sich die meisten Regierungen - ausgenommen Schweden und die Niederlande - noch weigerten, ihre Länder als Einwanderungsländer zu betrachten.

Insbesondere Europas multiethnische Metropolen - Berlin, Frankfurt Birmingham, Wien, Zürich, Bern oder Basel - seien so zu Pionierinnen geworden, aber auch kleinere Städte hätten große Erfahrungen gesammelt. Und sie meldeten sich in den letzten Jahren immer deutlicher zu Wort, bildeten europaweit, auch über die EU hinaus, städtische Netze wie die "Eurocities", die "Solidarity Cities" und seien in der Migrationspolitik bereit zu handeln, wenn die Zentralregierungen zögerten oder gar ihre Grenzen schlössen.

Als Beispiel nennt die Studie die Aufnahmebereitschaft von Neapel, Barcelona, Berlin, Kiel, Düsseldorf und Bonn, als im letzten Sommer das Rettungsschiff "Lifeline" dringend einen sicheren Hafen für 234 aus dem Mittelmeer gefischte Menschen suchte. Zwar gebe es auch unter den Städten migrationsfreundliche wie eher restriktive: "Vieles spricht freilich dafür, dass Kommunen mit höherer Wahrscheinlichkeit inklusive, pragmatische und sozialraumorientierte Lösungen präferieren als Nationalstaaten, da sie den sozialen Zusammenhalt der Bevölkerung vor Ort im Blick haben müssen".

Kein Geld, keine Macht - und nicht mal Personal für Brüssels Töpfe

Nur haben sie anders als die Regierungen praktisch keine Macht in EU-Europa. Zwar hole die EU-Kommission sich immer stärker Expertise aus Städten und Regionen - schon um dem Vorwurf vom Raumschiff Brüssel entgegenzuwirken - und gebe ihrerseits auch relevante Information von Brüssel in die Fläche. Aber eine institutionelle Rolle spielt die kommunale Basis Europas nicht. Das tut nicht einmal die ihretwegen gegründete jüngste EU-Institution, der Ausschuss der Regionen, den es seit 25 Jahren gibt.

Wenn die Kommission, die allein das Initiativrecht für EU-Gesetze hat, die Wünsche von unten nicht berücksichtigen will, muss sie das nicht. Und diese Wünsche sind auch so verschieden und teils widersprüchlich wie Europa selbst, auch das geben die Verfasserinnen der Studie zu: Reiche Industriestädte haben andere Interessen als bevölkerungsarme Landkommunen, Häfen und Grenzorte andere als das Binnenland.

Doch an der europäischen Machtlosigkeit der Kommunen, meinen sie, ließe sich etwas ändern. Einmal finanziell: Viele Städte und Gemeinden wüssten nicht einmal, welche Fördertöpfe es in Brüssel für ihre Integrationsaufgaben gebe und wenn, dann seien Verfahren und Maßnahmen so kompliziert, dass vor allem kleinere Städte weder Wissen noch Personal für das Antragswesen hätten. Klamme Kommunen wüssten oft nicht, wie sie selbst den kleineren Teil einer Ko-Finanzierung stemmen sollten.

An einige Töpfe kämen sie auch nicht heran, ohne ihre Regierungen zwischenzuschalten. Einiges davon, schlägt das Team um Bendel, Schammann und Kolleginnen vor, ließe sich durch One-Stop-Anlaufstellen pro Mitgliedsstaat lösen und dadurch, dass die Kommunen mehr direkte Wege nach Brüssel bekämen. Für Konflikte zwischen Paris und Lille oder Berlin und Garmisch solle die EU-Kommission ein Schlichteramt einrichten.

Kommunen sollen bei der Verteilung der Flüchtlinge mitreden

Der zentrale Vorschlag allerdings geht über Reparaturarbeiten am EU-Organigramm hinaus: Die Forscher fordern, die Kommunen von Anfang an in die "Relocation", also die Verteilung der Flüchtlinge, einzubeziehen und dabei auch deren Wünsche mitzubedenken. Wenn über eine zentrale Datenbank die Kommunen eingeben könnten, wen sie gerne bei sich hätten und was sie anbieten können und Geflüchtete ihre eigenen Erwartungen einspeisten, komme zusammen, was und wer zusammenpasse.

Alle Beteiligten hätten schon vor der konkreten "Relocation" die Chance, einander kennenzulernen beziehungsweise sich vorzubereiten - etwa, indem lokale Initiativen und Flüchtlingshelferinnen und Helfer aus der Stadtgesellschaft Kontakt aufnähmen. Nicht mehr Zahlen würden über Länderschlüssel verteilt, sondern konkrete Menschen könnten sich finden - wobei das System auch Quoten für besonders verwundbare Geflüchtete, Kranke oder Alte, berücksichtigen müsse. Das würde, so mutmaßen die Forscher, auch die Sekundärmigration, das Weiterwandern, reduzieren.

Dabei soll es zunächst einmal nur um die Menschen gehen, die bereits in Europa sind, nicht um "Resettlement" von Menschen, die, vermittelt vom UN-Flüchtlingshilfswerk, erst nach hier geholt werden. Dass die Kommunen bald ein Mitspracherecht bei der Einreise aus Drittstaaten bekämen, sei wohl unrealistisch, heißt es in den Empfehlungen. Den vorgeschlagenen Mechanismus auf Resettlement auszuweiten, "läge jedoch nahe".

Teil der Idee eines neuen Europa von unten

Das Policy Paper von Bendel und Kolleginnen atmet den Geist jener Europavisionen, die neuerdings immer öfter formuliert werden - einer Neugründung des Krisenriesen Europa von unten. Das hat die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot in ihrem Buch über die europäische Republik und die Überwindung der Nationalstaaten gefordert oder die Governance Platform der früheren Präsidentin des Viadrina-Universität Gesine Schwan. Auch die Feinde Europas scheinen erkannt zu haben, woher ihrer Politik der Abschottung Gefahr droht: Italiens rechtsradikaler Innenminister Matteo Salvini hat es nicht bei der Versiegelung der Häfen belassen, sondern setzt schon länger Bürgermeistern zu, die gegen seine nationale Linie Schutzsuchende aufnehmen und erfolgreich integrieren.

Bleibt die Machtfrage: Wer in einem Europa, das nicht in der Hauptstadt Brüssel, sondern in den Hauptstädten und meist von nationalen Egoismen gemacht wird, sollte ein Interesse haben, Macht an Europas Städte und Gemeinden abzugeben? Das Forschungsteam hat diese Gretchenfrage, gibt Hannes Schammann zu, fürs erste gar nicht gestellt, sondern setzt auf die Macht des guten Beispiels. "Wenn wir erst einmal mit den Staaten und Kommunen anfangen, die wollen, dann schaffen wir Modelle." Die dann auf die Akteure mit Macht wirken könnten, wie Gesine Schwan sagte, die als Kommentatorin zur Vorstellung des Papiers geladen war, wenn sie den Kommunen auch über die Flüchtlingshilfe hinaus Perspektiven biete - und EU-Geld an aufnahmewillige Gemeinden auch in die allgemeine Stadtentwicklung fließe. Das grabe der Rechten das Wasser schon zur Hälfte ab, die mit dem Argument punkte, alles gehe an die Fremden und die Einheimischen erhielten nichts. "Damit kommen Sie auch in Polen weiter!"

Mehrfach wurde bei Vorstellung des Papiers darauf hingewiesen, dass es auch dort, in Tschechien oder Ungarn Gemeinden gebe, die sich den Zuzug von Geflüchteten geradezu wünschten. Und mehrfach fiel der Name Pawel Adamowicz', des ermordeten Bürgermeisters von Danzig. Ellen Ueberschär, Chefin der Böll-Stiftung, berichtete, wie er gegen den Landestrend die Stadtverwaltung in Migrationspolitik schulte oder über passende Fonds und EU-Hilfen informierte.

Adamowicz fiel Anfang Januar einem Attentat zum Opfer. Aber nicht nur Danzig definiert sich weiter als Stadt des Willkommens: 20 Städte, daran erinnerte die Grünen-Europapolitikerin Franziska Brantner am Mittwoch, sind im angeblich so auf Abschottung erpichten Polen ebenfalls dabei.

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