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Die türkische Polizei nimmt Mitglieder der "Samstagsmütter" fest.

© Yasin Akgul/AFP

Türkei: Tränengas gegen trauernde Mütter

Warum die türkische Polizei gewaltsam mit Knüppeln und Tränengas gegen trauernde Mütter vorgeht.

Tränengas zieht durch über den Istiklal-Boulevard in Istanbul, hustend und keuchend drängen sich Passanten in Hauseingängen und Läden. „Haut bloß ab“, schreit ein Polizist eine Gruppe von Parlamentsabgeordneten auf dem Galatasaray-Platz an. Eigentlich sollte die Einkaufsmeile im Zentrum der türkischen Metropole an einem sonnigen Samstag den Flaneuren und Touristen gehören. Doch die Polizei hat sie mit mehreren Hundertschaften abgeriegelt und Wasserwerfer aufgeboten, um eine friedliche Kundgebung zu verhindern.

Auch nach dem Ende des Ausnahmezustandes wird in der Türkei kein Dissens geduldet – ein schlechtes Vorzeichen für die angestrebte Wiederannäherung an Europa. Anlass für den gewalttätigen Polizeieinsatz war die 700. Versammlung der „Samstagsmütter". Die Frauen erinnern seit 1995 an ihre Söhne, die im schmutzigen Krieg des türkischen Staates gegen kurdische Extremisten in den 80er und 90er Jahren entführt, gefoltert und ermordet wurden. Damals ging Ankara mit außergerichtlichen Hinrichtungen gegen mutmaßliche Staatsfeinde vor; mehrere Tausend Menschen wurden getötet.

Die jüngste Versammlung war der Regierung nicht geheuer

Bisher wurden Versammlungen der „Samstagmütter“ toleriert. Doch die jüngste war der Regierung offenbar nicht geheuer, weil von der Opposition zur Teilnahme aufgerufen wurde. Fünf Jahre nach den Gezi-Unruhen reagiert der Staat nach wie vor allergisch auf alles, was zu einer größeren Protestbewegung werden könnte. „Sie haben Angst“, sagte Mithat Sancar, der für die prokurdische Partei HDP im Parlament ist, am Rande des Polizeieinsatzes dem Tagesspiegel. Die Kundgebung am Samstag war denn auch kurzfristig verboten worden. Die Versammlung werde von der verbotenen kurdischen Terrororganisation PKK unterstützt, argumentierten die Behörden.

Bemerkenswert am Vorgehen gegen die „Samstagsmütter“ ist, dass die angeprangerten Verbrechen viele Jahre vor der Amtszeit von Präsident Recep Tayyip Erdogan begangen wurden – und die Regierung sich nun dennoch dahinter stellt. Die heutige Führung mache sich die traditionelle türkische Staatsauffassung zu eigen, wonach Verbrechen des Staates nicht aufgeklärt werden dürften, sagte die Menschenrechtlerin Eren Keskin.

Zehn Tage vor dem geplanten Reise von Außenminister Heiko Maas in die Türkei und einen Monat vor dem Erdogan-Staatsbesuch in Berlin wirft die Polizeigewalt einen Schatten auf die Bemühungen um eine Entspannung der türkisch-europäischen Beziehungen. „Die Bundesregierung muss das ansprechen", fordert Parlamentsvize Sancar. Die Grünen-Europaabgeordnete Rebecca Harms sagte, Berlin müsse Erdogan klar machen, „dass die Beziehungen zur Türkei schlechter werden, wenn es bei der Abkehr von Rechtsstaat und Demokratie und der politisch motivierten Massenverfolgung bleibt“. Auch die deutsche Übersetzerin Mesale Tolu, die am Sonntag nach langer Ausreisesperre in die Bundesrepublik zurückkehrte, solidarisierte sich per Twitter mit den „Samstagsmüttern“.

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