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Proteste in der Türkei: Unruhen setzen Erdogan auch außenpolitisch unter Druck
Bisher war es immer die Türkei, die arabische Herrscher zur Mäßigung aufrief. Nach dem brutalen Vorgehen gegen Demonstranten in Istanbul dürfte sich Erdogan einige unangenehme Fragen gefallen lassen müssen.
Irgendjemand in einem Regierungsbüro der syrischen Hauptstadt Damaskus hat einen Sinn fürs Absurde. Das Außenministerium des Bürgerkriegslandes Syrien warnt seine Bürger allen Ernstes vor Reisen in die benachbarte Türkei: Begründet wird dies mit den regierungsfeindlichen Unruhen in Istanbul und anderen Städten sowie der Gewalt der türkischen Sicherheitskräfte. Mit der merkwürdigen Warnung rächt sich der syrische Präsident Baschar Al Assad für die vielen Rücktrittsaufforderungen aus Ankara, bei denen das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Bevölkerung eine zentrale Rolle spielten.
Assads Antwort zeigt, dass die anhaltenden regierungsfeindlichen Demonstrationen die Türkei auch außenpolitisch in Bedrängnis bringen. Bisher hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sein Land in der Region als muslimische Demokratie mit starker Wirtschaft und garantierten Menschenrechten angepriesen und als Modell für die Staaten des Arabischen Frühlings empfohlen. Doch die Ereignisse der vergangenen Tage haben den Ruf der regionalen Führungsmacht Türkei ernsthafte Kratzer zugefügt.
Erdogan will vor den Protesten in der Türkei nicht zurückweichen
Erdogan selbst scheint das alles ganz anders zu sehen. Vor dem Abflug zu einer mehrtägigen Rundreise durch Marokko, Algerien und Tunesien bekräftigte der Premier am Montag, er werde nicht zurückweichen. Bei den Unruhen handele es sich nicht um einen spontanen Bürgerprotest, sondern um eine vor der Opposition gelenkte Aktion, um seine Regierungspartei AKP vor den kommenden Wahlen zu schwächen.
So einfach wie Erdogan macht sich Staatspräsident Abdullah Gül die Sache nicht. Gül rief die Türken zur Ruhe und Zurückhaltung auf, betonte aber auch, Demokratie bestehe nicht nur aus einem Wahltag alle vier Jahre. Auch außerhalb von Wahlen habe die Bevölkerung das Recht, ihre Wünsche und Forderungen zu äußern.
In der Nacht gab es im Istanbuler Stadtteil Besiktas schwere Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten
Ob Güls Worte die Situation beruhigen konnten, ließ sich zunächst nicht abschätzen. Auf dem Taksim-Platz und im Gezi-Park, den Ausgangspunkten der Revolte der vergangenen Tage, blieb es am Montag zunächst ruhig. In der Nacht hatte es im benachbarten Stadtteil Besiktas allerdings schwere Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten gegeben. Auch in der Hauptstadt Ankara hielten die Straßenschlachten an; dort setzte die Polizei erneut Tränengas ein.
Die Unruhen trüben das Bild der Türkei in der Region und untergraben ihre Glaubwürdigkeit, sagt der Istanbuler Politologe Cengiz Aktar. „Die Türkei hat einen Teil ihres politischen Kapitals eingebüßt“, sagte Aktar unserer Zeitung in Istanbul.
Schließlich hatte Erdogans Regierung in den vergangenen Jahren regelmäßig arabische Herrscher wie Muammar Gaddafi, Hosni Mubarak oder eben Baschar Al Assad zur Mäßigung aufgerufen. Die legitimen Forderungen der Bevölkerung müssten von der Regierung gehört werden, lautete ein Standardformel Ankaras. Gegen den Willen des Volkes könne sich keine Regierung der Welt auf Dauer im Amt halten, hieß ein anderer. Wegen Sätzen wie diesen dürfte sich Erdogan nun angesichts der Ereignisse von Istanbul bei Auslandsreisen einige unangenehme Fragen gefallen lassen müssen.
Die Türkei sieht sich selbst als Modell für den Nahen Osten
Auch aktiv hatte Erdogans Türkei bisher an ihrem Ruf als Modell-Land für den Nahen Osten gearbeitet. Bei einem Besuch in Ägypten vor zwei Jahren empfahl Erdogan den Ägyptern öffentlich die Übernahme des türkischen Systems einer säkulären Staatsordnung und westlicher Demokratie in einem muslimischen Land. Seine Partei lud Dutzende von Aktivisten aus Nahost-Ländern ein, um ihnen zu zeigen, wie man einen erfolgreichen Wahlkampf führt.
Nun hat die türkische „Soft Power“ einen Dämpfer erhalten. Erdogan wies am Montag zwar Vergleiche zwischen der Türkei und den Staaten des Arabischen Frühlings zurück. Die Türken könnten eigene Parteien gründen und ihn abwählen, was in Libyen oder Tunesien vor den Umbrüchen der vergangenen Jahre nicht möglich gewesen sei, sagte er.
Doch Oytun Orhan, Nahost-Spezialist an der Denkfabrik Orsam in Ankara, sieht dennoch einige Schwierigkeiten für Erdogans Außenpolitik voraus. Die Unruhen von Istanbul, so Orhan, hätten die „Grenzen türkischer Macht“ aufgezeigt.