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Ein ukrainischer Soldat schießt auf eine russische Drohne: Um die Moral an der Frontlinie soll es nicht gut bestellt sein.

© Fadel Senna/AFP

Unzureichende Versorgung und schlechte Waffen: Auch bei Kiews Truppen sinkt teilweise die Moral – erste Soldaten desertieren

Präsident Selenskyj berichtet von etwa 100 getöteten Soldaten täglich. Glaubt man den Ukrainern im Donbass, ließen sich einige davon verhindern.

Nach zahlreichen Berichten über die schlechte Moral russischer Truppen beklagen nun ukrainische Streitkräfte im Donbass unzureichende Versorgung und Waffen. Wie die „Washington Post“ berichtet, ist die Stimmung bei einzelnen Einheiten der Ukrainer sogar so schlecht, dass sie desertieren.

Das russische Militär soll im derzeitigen Hauptkampfgebiet des russischen Angriffskriegs in der Ukraine um Sjewjerodonezk demnach so übermächtig sein, dass die Ukrainer dort auf Gegenoffensiven verzichten könnten. Denn, so beschreibt es ein Kommandeur: „Die Russen wissen ohnehin schon, wo wir sind. Und wenn ein ukrainischer Tank von außerhalb schießt, wissen sie danach auch seine Position.“

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Plötzlich an vorderster Front

Ein Problem ist, dass viele der ukrainischen Soldaten in der Region Luhansk nicht voll ausgebildet sind, sondern sich vor dem Krieg freiwillig gemeldet haben. Ein solcher Soldat berichtet der „Washington Post“, dass er in das umkämpfte Gebiet im Donbass geschickt wurde, um dort in der dritten Verteidigungslinie zu unterstützen. Als er vor Ort ankam, soll er sich aber an vorderster Front vorgefunden haben.

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Dass die Lage im Osten des Landes schwierig sei, betonte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich erneut. Zudem erklärte er, dass dort derzeit jeden Tag etwa 100 Soldaten getötet werden. „Und ein paar hundert Menschen – 450, 500 Menschen – werden verletzt jeden Tag“, sagte Selenskyj.

Die ukrainischen Truppen klagen zudem über unzureichende medizinische Versorgung an der Frontlinie. Glaubt man den Soldaten, die der „Washington Post“ berichten, ließen sich einige Tote verhindern. So fehlen beispielsweise Fahrzeuge, um die Verletzten in Krankenhäuser zu bringen.

Russland berichtet sogar von 360 getöteten ukrainischen Soldaten allein in der Nacht auf Freitag. Diese Zahl lässt sich, ebenso wenig wie die ukrainische, überprüfen. Durch Luft-, Raketen- und Artillerieangriffe sollen auch 49 Waffensysteme und Militärfahrzeuge vernichtet worden sein, sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, am Freitag.

Dass viele freiwillige Kämpfer aus der Ukraine nicht gut genug vorbereitet waren, gab Serhij Gaidai, der Gouverneur der Region Luhansk, sogar zu. Allerdings sagte er der „Washington Post“: „Sie haben genügend medizinisches Material und Essen. Das einzige Problem ist, dass sie nicht bereit sind, zu kämpfen.“

„Wir sind in den sicheren Tod geschickt worden“

Noch würden die ukrainische Soldaten Sjewjerodonezk verteidigen können und ihre Stellungen aufrechterhalten, sagte Gaidai. Er räumte aber auch ein: „Was die heutige Situation in Sjewjerodonezk betrifft, muss ich leider sagen, dass es der russischen Armee gelungen ist, tief in die Stadt vorzudringen. Sie kontrolliert den größten Teil der Stadt.“

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Die Frage ist: Wie lange können die ukrainischen Truppen die Verteidigungslinien noch aufrechterhalten? Immerhin waren es nicht wenige Soldaten, die zuletzt desertierten.

Am 24. Mai luden Truppen ein Video auf Telegram hoch, in dem sie mitteilten, dass sie nicht länger kämpfen werden, weil sie keine adäquaten Waffen hätten, zu wenig Unterstützung sowie Führung, um den russischen Angriffen etwas entgegensetzen zu können. „Wir sind in den sicheren Tod geschickt worden“, sagte ein Soldat, umringt von seinen Kollegen. „Und wir sind nicht alleine mit dieser Auffassung, wir sind viele.“

Ukraine soll Mehrfachraketenwerfer bekommen

Allerdings scheinen die Desertationen der Ukrainer und die Übermacht der Russen in der Region Luhansk nicht unbedingt richtungsweisend zu sein. Das glaubt zumindest Militärexperte Carlo Masala: Die Russen würden derzeit „übermächtige Kräfte zusammenziehen, um kleine Stücke zu erobern. Da sind sie relativ erfolgreich“, sagte Masala im Tagesspiegel-Interview. „Aber es würde für die Ukraine jetzt auch keinen Sinn machen, sich dort in jede Schlacht reinzuschmeißen“, erklärte er.

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Er riet, die Erfolge der Russen momentan nicht überzubewerten. Denn: „Sie haben erhebliche Probleme, sie haben auch große Verluste, genauso wie die Ukrainer. Und sie haben erhebliche Probleme, größere Städte einzunehmen.“ Wie viele russische Soldaten bereits gefallen sind, lässt sich nicht beziffern. Allerdings dürften diese in die Zehntausende gehen.

Um die Moral der ukrainischen Truppen aufzubessern, würde zweifelsohne notwendiges Equipment beitragen. Schon bald sollen Mehrfachraketenwerfer vom Typ HIMARS aus den USA ankommen. „Diese Waffen werden wirklich dazu beitragen, das Leben unseres Volkes zu retten und unser Land zu schützen“, sagte Selenskyj dazu. Schließlich ist der Krieg nach dem Kampf um Sjewjerodonezk nicht vorbei. Experten gehen davon aus, dass es auf einen dynamischen Stellungskrieg hinauslaufen wird. (mit Agenturen)

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