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Smartphones wissen viel über ihre Nutzer - was genau, wissen die Nutzer meist nicht. Das gilt es zu ändern.

© Christin Klose/dpa-tmn

Verbraucher als Daten-Schafe?: Die Digitalisierung braucht neue Spielregeln

Die Digitalisierung kann ihre Vorteile nur ausspielen, wenn es gelingt, die Ungerechtigkeiten zu beheben, die das derzeitige Regelwerk mit sich bringt. Die betreffen vor allem den Umgang mit Daten. Ein Gastbeitrag.

- Dennis J. Snower ist Präsident der Global Solutions Initiative, Professor für Macroeconomics and Sustainability an der Hertie School, Berlin und Senior Research Fellow an der Blavatnik School of Governance, Oxford University. Ab dem 10. November strahlt die Global Solutions Initiative auf ihrer Website (https://www.global-solutions-initiative.org/policy-advice/revisiting-digital-governance/) eine Online-Debatte über den künftigen Kurs der Digitalisierung aus, an der auch Christian Kastrop, Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, teilnimmt.

Die Corona-Pandemie hat sich dank ungewolltem Stresstest zum Beschleuniger der Digitalisierung aller Lebensbereiche entwickelt – von der Wirtschaft über die Bildung bis hinein ins Privatleben. Die Zoom-Konferenz im Homeoffice statt der Sitzung im Konferenzraum, Onlinebestellungen vom Sofa statt Shopping in der Stadt, ein spontaner Videoanruf bei der Oma statt des umständlich zu planenden Besuchs – hier hat die Digitalisierung ihre Vorteile ausspielen können.

Doch zugleich hat sie auch negative Seiten, die schon vor der Corona-Pandemie immer deutlicher zutage getreten sind: Fake News untergraben demokratische Prozesse und gefährden den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Große Digitalkonzerne wie Google, Amazon und Facebook bilden Monopole, gefährden die Funktionsfähigkeit des Wirtschaftssystems und umgehen Steuerzahlungen. Cyberkriminelle richten Milliardenschäden an.

Digitale Technik durchdringt den Alltag und wirkt disruptiv. Und die dabei entstehenden Probleme sind erheblich, denn das derzeitige Datenregime beruht auf einer Art digitalem Kuhhandel: Die Dienstleistung darf kostenfrei genutzt werden, dafür gibt man dem Anbieter seine Daten preis.

Das Problem ist, dass die Nutzer den Wert ihrer Daten nicht einschätzen können. Sie wissen also nicht, ob die im Gegenzug erhaltene Dienstleistung angemessen ist. Sie verlieren die Kontrolle über ihre persönlichen Daten, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Und die Konsequenzen sind gravierend: Die digitalen Monopole steuern unsere Aufmerksamkeit und strukturieren unsere sozialen Netzwerke – in erster Linie mit dem Zweck, Einnahmen für Werbetreibende und andere Einflussverkäufer zu generieren, ohne dass wir davon direkt etwas mitbekommen. Dadurch werden wirtschaftliche, soziale und politische Freiheiten untergraben. Das ist eine Bedrohung für eine Gesellschaft genauso wie für eine dem Wettbewerb ausgesetzte Marktwirtschaft.

Zugleich wird auf diese Weise der Manipulation demokratischer Prozesse Tür und Tor geöffnet. Um die vorhandenen Probleme zu lösen und zugleich die Vorteile des derzeitigen Systems beizubehalten, ist schnell eine grundlegende Kurskorrektur notwendig. Die Digitalisierung kann ihre Vorteile nur ausspielen, wenn es gelingt, die Ineffizienzen und Ungerechtigkeiten zu beheben, die das derzeitige Regelwerk mit sich bringt.

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Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Freiheiten im digitalen Raum müssen gleichermaßen im Blick behalten und stärker gefördert werden. Das bedeutet, dass Menschen die Kontrolle über ihre persönlichen Daten bekommen müssen. Damit ist die Politik gefordert, die richtigen Stellschrauben zu justieren, also die europäische Datenschutzgrundverordnung an den richtigen Stellen weiterzuentwickeln, um die Digitalisierung von einem zweischneidigen Schwert zu einer echten Erfolgsgeschichte zu machen.

Dem Nutzer die Kontrolle über seine Daten zurückzugeben bedeutet, das Macht- und Informationsgefälle zwischen dem Nutzer als Datenerzeuger und den Plattformanbietern auszugleichen, im Sinne von „Levelling the Playing Field“. Ein Ansatz kann sein, neben der direkten Kontrolle über Daten auch die Beteiligung- und Vertretungsmacht der Nutzer zu stärken. Genauso wie Gewerkschaften oder Verbraucherschützer kollektive Interessen vertreten und verhandeln, kann dieses Prinzip auf den digitalen Raum angewandt werden.

Neue Kategorien: offizielle Daten, kollektive und private

Voraussetzung dafür ist ein neues Kategoriensystem, wie mit welchen Daten umzugehen ist. Dieses kann wie folgt aussehen: Es gibt „offizielle Daten“ wie Name und Geburtsdatum, die staatlich autorisiert sind und über die allein der Nutzer entscheidet. Und es gibt „kollektive Daten“. Diese werden von den Nutzern freiwillig mit einem bestimmten Personenkreis und zu einem bestimmten, vorab festgelegten Zweck geteilt. Dazu zählen etwa die Corona-Infektionsdaten in der Warn-App oder die öffentlich zugänglichen Daten auf Social-Media-Profilen. Als dritte Kategorie gibt es noch „private Daten“. Diese sind nicht kollektiv und erfordern auch keine Authentifizierung einer Behörde. Diese Art von Daten können vom Nutzer selbst erzeugt sein, beispielsweise Standortdaten des Mobiltelefons, oder von externen Parteien generierte Daten und Datenmuster, wie Bewegungsprofile.

Der Wissensvorsprung der digitalen Dienstleister ist groß, gerade was die Erzeugung, den Umgang und die Nutzung der kollektiven und privaten Daten angeht. Umso wichtiger ist es, dass der Nutzer nicht auf sich allein gestellt ist, sondern eine Institution an der Seite hat, die seine Interessen vertritt und auf Augenhöhe verhandelt.

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Gleichzeitig führt die Monopolstellung der Plattformanbieter zu einer Wettbewerbsverzerrung. Auch hier muss politisch nachgerüstet werden. Mittlerweile ist es für den Nutzer oft keine Option mehr, sich von Diensten abzumelden und das eigene Profil zu löschen. Es mangelt an Alternativen, und die soziale Teilhabe würde erschwert.

Deshalb müssen neben der Stärkung der direkten oder indirekten Beteiligungsmacht Verordnungen auf EU-Ebene angepasst werden. Mit umfassendem Rechtsschutz für die Nutzer und einem Wettbewerbsregime, das online die Einhaltung der gleichen Regeln sicherstellt wie offline, lässt sich die Macht der großen Digitalkonzerne einschränken. Nur wenn eine solche umfassende Neuausrichtung gelingt, kann die Digitalisierung zu einem echten gesellschaftlichen Fortschritt führen – und nicht in erster Linie den Gewinn der digitalen Dienstleister steigern.

Mehr Macht über die eigenen Daten ist gelebter Verbraucherschutz

Wenn die Menschen die Macht über ihre Daten erhalten, wird der Wettbewerb gefördert, denn nur dann haben Herausforderer am Markt eine echte Chance gegenüber den etablierten Digital-Platzhirschen. Zugleich wird die Nutzung von persönlichen Daten für die kommerzielle und politische Manipulation unterbunden. Dies wäre gelebter Verbraucherschutz. Außerdem würden auch die Grundrechte aufrechterhalten, die durch das derzeitige Modell untergraben und regelmäßig verletzt werden. Der Staat und damit die Gesellschaft würden von dieser Neuausrichtung auch finanziell profitieren, denn das Problem der Gewinnverlagerung und der damit zusammenhängenden Steuervermeidung durch globale Konzerne ist durch die zunehmende Digitalisierung immer größer geworden. Wenn die Menschen die Hoheit über ihre Daten haben, wäre dem ein Riegel vorgeschoben.

Zugleich lassen sich durch die erhöhte Transparenz neue Quellen für Steuereinnahmen generieren, etwa auf den neuen Informationsmärkten. Und schließlich befördert die Neuausrichtung des Datenregimes auch neue Potenziale für wirtschaftliche Innovationen. Sie eröffnet neue Chancen für Bildung, Ausbildung und eine Neustrukturierung des Arbeitsmarktes. Empathie und Solidarität werden so auch im digitalen Raum zu Grundwerten, anstelle des Hasses, der dort derzeit vielerorts regiert. Kurz: Die Neuausrichtung der digitalen Sphäre würde zu mehr Menschlichkeit führen. Und das ist es, was die Digitalisierung braucht, um zu einem echten Fortschritt für die Menschheit zu werden.

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