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„Verhalten der Union ist fahrlässig“: Pistorius reagiert empört auf mögliche Verzögerung seines Wehrdienstgesetzes
Im August beschloss das Kabinett das Wehrdienstgesetz von Verteidigungsminister Boris Pistorius. Doch nun wollen Teile der Union die Beratung im Bundestag stoppen. Der Verteidigungsminister reagiert verstimmt.
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Eigentlich soll das neue Wehrdienstgesetz kommende Woche im Bundestag beraten werden. Doch dann habe die Unionsfraktion „die Notbremse gezogen“ und das Vorhaben von der Tagesordnung gekippt, berichtete die „Bild“-Zeitung am Donnerstag.
„Wir haben es geschoben, weil der Gesetzentwurf angesichts der aktuellen Bedrohungslage (Drohnenflüge) noch nicht weit genug geht. Es darf bei der Wehrpflicht jetzt keine halb garen Lösungen geben“, heißt es der „Bild“ zufolge in der Union. Die SPD schäume intern vor Wut, versuche aber, nach außen die Fassung zu wahren, schreibt die Zeitung.
Pistorius appelliert an die Union
„Die Diskussion zum Aufwuchs der Bundeswehr und der Reserve muss bereits jetzt umfassend geführt werden“, sagte Thomas Erndl, verteidigungspolitischer Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, dem Tagesspiegel: „Wir können das nicht einfach aufschieben.“ Es sei „im Interesse der Sicherheit unseres Landes und natürlich auch der Koalition, dass wir schnell zu einer gemeinsamen Linie kommen“.
Kritisiert wird in der Union unter anderem, dass das Gesetz nicht genau definiert, unter welchen Bedingungen die bisher geplante Freiwilligkeit beim Wehrdienst in eine neue Pflicht umgewandelt werden könnte. Pistorius argumentiert dagegen, im parlamentarischen Verfahren gebe es verschiedene Möglichkeiten, vom Gesetzentwurf abweichende Haltungen einzubringen – etwa durch Änderungsanträge. Auch die Anhörung von Sachverständigen diene genau dazu, Expertise von außen einzuholen, sodass kein Argument unberücksichtigt bleibe.
Am Samstag meldete sich dann der Verteidigungsminister selbst zu Wort. Er übte scharfe Kritik an dem Vorstoß der Unionsfraktion, die Bundestagsberatungen über das neue Wehrdienstgesetz vorerst zu stoppen.
„Das Verhalten der Unionsfraktion ist fahrlässig, weil es möglicherweise die Einführung des neuen Wehrdienstes und damit auch die Wiedereinführung der Wehrerfassung verzögert“, sagte der SPD-Politiker dem „Handelsblatt“. Er forderte den Regierungspartner auf, „am Zeitplan festzuhalten und sich so einzubringen, wie es das parlamentarische Verfahren vorsieht“.
Wenn es jetzt stockt in der Koalition, dann wird das sicher zu deutlich weniger Interessent:innen am Wehrdienst führen. Das kann keiner wollen!
Sara Nanni, Sprecherin der Grünen im Verteidigungsausschuss
Derzeit steht die erste Lesung des sogenannten Wehrdienst-Modernisierungsgesetzes noch auf der Tagesordnung des Bundestags. Am Montag solle der Punkt dann aber dort verschwinden, hieß es am Freitag aus der Union. Eine Einigung übers Wochenende erscheine unwahrscheinlich.
Die Grünen fordern die schwarz-rote Koalition derweil auf, das vom Kabinett abgesegnete Gesetz zur Wehrpflicht nun rasch im Bundestag zu verabschieden.
Sara Nanni, Sprecherin der Grünen im Verteidigungsausschuss des Bundestags, drängt die Regierungsfraktionen, ihre wechselseitige Blockade zu beenden. „Dass diese Koalition glaubt, wir hätten noch Zeit für so ein Theater, überrascht mich“, sagte Nanni dem Tagesspiegel.
Die Besoldung für Grundwehrdienstleistende „muss rasch hoch, damit sich mehr Menschen verpflichten und gegebenenfalls auch länger als ein Jahr in der Truppe bleiben“, sagte sie.
Das habe der vorliegende Gesetzentwurf vorgesehen, „und das fanden wir gut“, sagte Nanni: „Bei aller berechtigten Kritik und den offenen Fragen von links und rechts: Wenn es jetzt stockt in der Koalition, dann wird das sicher zu deutlich weniger Interessent:innen führen. Das kann keiner wollen!“
Spahn verweist auf möglichen Angriff Putins
In der Debatte über den geplanten Wehrdienst sprach sich nach Außenminister Johann Wadephul auch Unionsfraktionschef Jens Spahn (beide CDU) für die sofortige Einführung einer Wehrpflicht aus. „Wir müssen als Gesellschaft unser Bewusstsein an die Lage anpassen. Wir sind nicht im Krieg, aber auch nicht mehr im Frieden“, sagte er den Zeitungen der Mediengruppe Bayern.
Um die Freiheit zu verteidigen, müsse man glaubhaft verteidigungsfähig sein, fügte Spahn hinzu. Dazu müsse so rasch wie möglich eine funktionierende Drohnenabwehr aufgebaut werden.
Zur Forderung des Außenministers nach sofortiger Wiedereinführung der Wehrpflicht, sagte Spahn: „Wenn die These des Verteidigungsministers stimmt, dass Putin 2029 Nato-Gebiet angreifen könnte, dann kann die gemeinsame Schlussfolgerung nur sein, dass wir beim Wehrdienst deutlich ambitionierter sein müssen. Also: Ja, da hat Jo Wadephul recht.“
Die Wehrpflicht war in Deutschland 2011 ausgesetzt worden, was in der Praxis einer Abschaffung von Wehr- und Zivildienst gleichkam. Anstelle des Zivildienstes wurde der Bundesfreiwilligendienst eingeführt.
Im Sommer brachte das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Einführung eines neuen Wehrdienstes auf den Weg. Der Entwurf führt eine Wehrerfassung junger Männer ein, setzt aber zunächst auf Freiwilligkeit und einen attraktiveren Dienst. Als Grund wird eine neue Bedrohungslage in Europa genannt.
Bereits im März hatten drei ehemalige Wehrbeauftragte des Bundestages Union und SPD dazu aufgerufen, in ihrem Koalitionsvertrag die Wiedereinführung der Wehrpflicht zu verankern.
„Die Zeit der Friedensdividende mit einer reinen Freiwilligenarmee ist unwiderruflich vorbei“, sagte der frühere Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels (SPD) dem Tagesspiegel. „Ohne das Wiederaufleben der Wehrpflicht in angepasster Form wird die Bundeswehr nicht größer, kampfkräftiger und einsatzbereiter.“
Ich befürworte die Wiederaufnahme der Wehrpflicht, weil sie entscheidend zur Verteidigungsfähigkeit unseres Landes beitragen würde.
Claire Marienfeld-Czesla (CDU), die frühere Wehrbeauftragte
In der Legislaturperiode der schwarz-roten Koalition müsse die Truppe von 180.000 auf etwa 250.000 aktive Soldaten aufwachsen, sagte Bartels: „Zu Zeiten des Kalten Krieges vor 1990 waren es übrigens 500.000.“
Mehr Geld für mehr Waffen allein mache Deutschland noch nicht „kriegstüchtig“. Zum Kern der konventionellen Abschreckung in Europa sagte Bartels: „Wir brauchen auch mehr Soldaten – und eine substanzielle Reserve dazu!“
„Ich bin der Meinung, dass die künftige Regierung die Wiederaufnahme der Wehrpflicht in den Koalitionsvertrag aufnehmen sollte“, sagte die frühere Wehrbeauftragte Claire Marienfeld-Czesla (CDU) dem Tagesspiegel. „Ich befürworte die Wiederaufnahme der Wehrpflicht, weil sie entscheidend zur Verteidigungsfähigkeit unseres Landes beitragen würde.“
Der Ex-Wehrbeauftragte Reinhold Robbe (SPD) sagte dem Tagesspiegel: „Ich bin für die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Die sicherheitspolitische Lage hat sich zu 2011, als die Wehrpflicht ausgesetzt wurde, fundamental verändert. Allerdings muss sich die neue Wehrpflicht auch auf die Frauen ausdehnen.“ (mit dpa)
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