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Politik: Vor vier Wochen floss das Gift in die Theiss- heute will man vergessen

Sándor Pocs lässt sich entschuldigen. Nein, heute kann er einmal nicht mit der Presse reden.

Sándor Pocs lässt sich entschuldigen. Nein, heute kann er einmal nicht mit der Presse reden. Heute muss er wieder fischen. Nicht für seinen Lebensunterhalt, wie er es vor dem Unglück getan hat, nicht wie seine Großväter, die von den Fischen lebten, sondern für die Herren in den Labors von Debrecen. Denen will Pocs beweisen, dass die Fische, die das alles überlebt haben, frei sind von Gift. Jawohl, und Karpfensuppe hat er auch schon wieder gegessen. Warum denn nicht?

Über dem östlichen Ungarn liegt ein missgelaunter Februartag, kalt ist es, und richtig hell will es nicht werden. Die Theiss, der viel besungene, fast mythisch verklärte Ur-Strom der Magyaren, wälzt sich träge und schlammbraun durch die Ebene. Fast vier Wochen ist es her, dass 100 000 Kubikmeter hochgiftiger Abwässer hier durchflossen - und alles auslöschten, was an Leben zu finden war. So zumindest hatte es in den ersten Tagen den Anschein; die Berge von Fischkadavern belegten diese Vermutung, und die Tränen auf den abgehärteten Gesichtern der Fischer sprachen für sich. Inzwischen sind wieder lebende Fische entdeckt worden, und das offizielle Ungarn geht zu einer distanzierteren Betrachtungsweise über. Man hat seine Gründe.

Die "Kleine Meerjungfrau" in Tiszafüred, direkt am Ufer, ist ein Hotel für Angeltouristen; 20 Zimmer, alle mit Theiss-Blick. Die Saison soll am 27. März beginnen, doch Besitzer Mihály Pirók befürchtet Schlimmes. Erst vor einem halben Jahr hat er das Haus gepachtet, einen "sehr erfolgreichen Herbst" verbucht. Jetzt kommt eine Absage nach der anderen. "Ich muss mir überlegen, ob ich das Geschäft weiterführen kann." Manchem Storno aus Österreich und Deutschland liegen Zeitungsartikel bei ("Theiss auf Jahre verseucht"), und Pirók dementiert: "Das stimmt nicht; das ist maßlos übertrieben." Imre Szabics pflichtet ihm bei. Szabics unterhält einen kleinen Hafen, vermietet Kähne und sagt: "Krank ist die Theiss, aber nicht tot."

Pirók und Szabics gehören zu den unmittelbar Geschädigten am 580 Kilometer langen ungarischen Abschnitt der Theiss. Zu den touristischen Unternehmern und den Einzelhändlern muss man gut 200 Fischerfamilien hinzurechnen; die ungarische Regierung zählt offiziell 1000 Betroffene. Pirók dagegen sagt: "In unserer Region sind praktisch alle geschädigt." Neben dem Tourismus gibt es kaum Erwerbsmöglichkeiten, die Landwirtschaft wirft nicht viel ab, etliche Industriebetriebe sind mit der Wende geschlossen worden, die Arbeitslosigkeit liegt bei 27 Prozent. "Die Leute hier sind sehr arm. Viele Arbeitslose leben nur von der Theiss. Sie angeln und beliefern beispielsweise die Touristen mit Köderfischen."

Pirók und Szabics sind sich einig mit dem Bürgermeister von Tiszafüred, Ferenc Rente: Der ökologische Schaden sei weit geringer als der Imageschaden für die aufstrebende Touristenregion. "Die Vorurteile! Die Medien!", ruft Ferenc Rente. Den seit gut 20 Jahren aufgestauten Theiss-See mit seinen verwunschenen Buchten, seltenen Vögeln und zahllosen Fischen wollte man zu Ungarns "zweitem Plattensee" ausbauen. Die Theiss galt als eines der saubersten Fluss-Systeme Europas. Zumindest der See sei intakt geblieben, sagt Bürgermeister Rente jetzt: "Das ist unser großes Glück. Die Fische sind wohlauf, man kann angeln, baden, Boot fahren, wie früher." Man sei geschickt gewesen, habe das Wasser erst aufgestaut und es, als die Giftwelle kam, gezielt abgelassen, erklärt Rente. So habe man den Zyanidschwall quasi durch den See hindurchgeschossen. Nur sieben Prozent des Sees seien geschädigt, alle Buchten heil.

400 000 Übernachtungen zählt Tiszafüred pro Jahr, 80 Prozent der Touristen kommen aus dem Ausland. Oder kamen. Nach dem Unglück sind schon zehn Yachten abtransportiert und mehrere Dutzend Angelscheine zurückgegeben worden. Jetzt sorgt sich Bürgermeister Rente auch um "unsere ethnische Minderheit": jene Deutschen, die tausend Einfamilienhäuser aufgekauft haben und zum Teil das ganze Jahr in Tiszafüred leben. "Das sind meist einfache Leute, Rentner, die mit ihrem Geld in Deutschland nur schwer leben können. Einige sind frühere Bauarbeiter, die helfen hier ihren Landsleuten beim Hauskauf oder beim Renovieren." Man müsse ihnen jetzt nur klarmachen, dass 93 Prozent des Sees völlig gesund seien.

80 Kilometer stromabwärts von Tiszafüred, in der Industriestadt Szolnok, sitzt Bürgermeister Ferenc Szalay an einem Brief an die Partnerstadt Reutlingen: "Danke für Eure raschen und umfassenden Hilfsangebote. Aber wir brauchen nichts, auch keine D-Mark, nur Unterstützung beim Marketing." Szolnok hatte gleich mehrmals Glück im Unglück. Wäre die Giftwelle in die Zeit des regelmäßig wiederkehrenden Hochwassers gefallen, hätten sich Zyanid und Schwermetalle weiträumig verteilen können. Das zweite Glück: Szolnok ist die einzige Stadt, die ihr Trinkwasser aus der Theiss bezieht - für 120 000 Menschen. "Aber wir mussten die Leitungen nur für zwölf Stunden sperren, dann war die Welle durch", sagt Szalay.

Jetzt guckt der Bürgermeister nach vorn. Knapp viermal so viele Jungfische wie sonst will er dieses Jahr in der Theiss aussetzen lassen. Die Bedenken von Umweltschützern, dass diese Fische verhungern werden, weil alle Algen und Mikroorganismen abgestorben seien, teilt Szalay nicht. Ansonsten, sagt er, müssen in der nagelneuen Wasseraufbereitungsanlage noch die Filter ausgetauscht werden, "die normalerweise acht Jahre halten", aber das Wasser sei schon jetzt wieder unbedenklich.

Der Bürgermeister muss zugeben, dass er zurzeit keine Messwerte über den Schwermetallgehalt am Grund der Theiss hat, dort, wo das Trinkwasser entnommen wird. Fachleute meinen, gerade der Schlamm könnte noch eine gefährliche Fracht mit sich führen. Für Szalay aber ist das bloß "die Phantasie der Leute". Er könne aus technischen Gründen ausschließen, dass Schlamm ins Trinkwassersystem gerate.Im Übrigen hat Szalay vor, seine Stadt aus der Abhängigkeit vom Fluss zu befreien und einen 16 Kilometer langen Altarm der Theiss zum Trinkwasserreservoir ausbauen zu lassen. "Damit könnten wir 24 Tage überbrücken."

Für das Frühjahr ist das nächste Hochwasser angekündigt. Was es mit sich bringen wird, weiß man nicht. Zumindest mit ein paar toten Fischen, die bisher im Schlamm steckten, ist noch einmal zu rechnen.

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