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Szenenbild aus Dresden.

© Robert Michael/dpa-Zentralbild/dpa

Politik ist mehr als Epidemiologie: Warum ich gegen eine allgemeine Impfpflicht bin

Als Bürgerrechtler vertraue ich auf die Mündigkeit der Menschen. Das gilt auch in Sachsen. Ein Gastbeitrag des sächsischen Vize-Ministerpräsidenten.

Stand:

- Wolfram Günther (Bündnis 90/Die Grüne) ist stellvertretender Ministerpräsident von Sachsen. Der Jurist und Kunsthistoriker ist gebürtiger Leipziger und Staatsminister für Energie, Klimaschutz, Umwelt und Landwirtschaft.

Das Coronavirus hat Deutschland fester im Griff als je zuvor in dieser Pandemie. Und Sachsen noch ein ganzes Stück fester. Etwa ein Siebtel des bundesdeutschen Infektionsgeschehens spielt sich aktuell in meinem Bundesland ab. Dabei lebt hier nur etwa ein Zwanzigstel der Bevölkerung. Ärztinnen und Pfleger arbeiten jenseits der Belastungsgrenze. Schwerstkranke aus sächsischen Krankenhäusern werden mit Militärmaschinen in andere Bundesländer ausgeflogen.

Worin diese besondere Situation gründet, ist bundesweit Gegenstand von Interpretationen, die mal zutreffend sind und mal bestürzend simpel in ihrer Behauptung, es gebe eine geschlossen „andere“ sächsische oder ostdeutsche Gesellschaft. Wiederholung einer Binse: Es gibt die nicht.

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Zwar gingen in den letzten Tagen Corona-Leugner ohne Maske und unter Missachtung von Auflagen und Mindestabstand auf die Straße. Und ein radikaler Teil von ihnen bedroht Impfzentren und Menschen, die Verantwortung für Demokratie und Pandemiebekämpfung wahrnehmen. Vor dem Haus meiner Kabinettskollegin Petra Köpping tobten Fackelträger. Der sächsische Ministerpräsident wird mit dem Tod bedroht.

Aber gleichzeitig steht die Zivilgesellschaft in Städten wie Freiberg gegen diesen Irrsinn auf. Eine satte Mehrheit der Menschen im Freistaat begrüßt entschlossene Maßnahmen gegen die Pandemie. Noch eine Binse: Unter denen, die keine Impfung wollen, stellen militante Corona- Leugner, die mit Fake News den demokratischen Diskurs zersetzen wollen, eine kleine, aber laute und nicht ungefährliche Minderheit.

Geringe Impfquote, hohe Krankenzahl - und trotzdem

Die Zahl unterm Strich: Nur rund 59 Prozent aller Menschen in Sachsen sind geimpft. In manchen Landkreisen liegt die Impfquote unter 50 Prozent. Dort grassiert die Pandemie noch massiver. Es steht die Frage, ob eine allgemeine Impfpflicht eine angemessene Antwort auf diese Lage wäre. Ich denke – trotz der verheerenden Lage – nein.

Meine politische Haltung wurzelt tief in der Idee aktiv ausgeübter Bürgerrechte. Diese Idee war eine der Triebfedern der ostdeutschen Demokratiebewegung der 80er Jahre. Dass Menschen per se ausreichend mündig sind, um Entscheidungen in großen wie in kleinen Angelegenheiten für sich selbst und in Verantwortung für andere zu treffen: Diesem Menschenbild zu vertrauen, ist ein Auftrag von 1989. Dieses Menschenbild trägt mich und viele andere bis heute, es ist Kernbestand bündnisgrüner Politik.

[Lesen Sie hier bei T-Plus: Im Corona-Wahnsinn - Protokoll einer Schicht auf der Intensivstation.]

Die Argumentation von Epidemiologen für eine allgemeine Impfpflicht kann ich gut nachvollziehen. Aber als Politiker, der gesellschaftliche Folgen von Entscheidungen in all ihrer Breite im Blick haben muss, setze ich auf die Mündigkeit der und des Einzelnen.

Die verfassungsrechtliche Abwägung, nach der eine Impfpflicht verhältnismäßig wäre, weil sie ein milderes Mittel ist als wiederholte Lockdowns und Beschränkungen von Grundrechten, auch diese Abwägung finde ich richtig. Aber weil etwas verfassungsrechtlich zulässig ist, heißt das nicht, dass es politisch geboten ist.

Es sind zu viele praktische Fragen ungelöst

Ich bin zudem der Überzeugung, dass die Forderung nach einer allgemeinen Impfpflicht ins Leere geht, solange viele praktische Fragen nicht beantwortet sind, die sich mit ihr stellen: Haben wir genügend Impfstoff? Wie verteilen wir ihn, wenn es keine flächendeckenden Impfzentren mehr gibt und ein Teil der Ärzteschaft nicht mitimpft? Es gibt Studien, nach denen eine Pflicht für ausgewählte Impfungen die Impfbereitschaft insgesamt senkt. Wollen wir diesen Kollateralschaden?

Wie vermeiden wir es, dass Hochbetagte stundenlang in der Kälte Schlange stehen müssen? Wie wäre eine Impfpflicht beim harten Kern der Corona-Leugner praktisch durchsetzbar? Wie schützen wir diejenigen, die impfen, vor den Durchgedrehten, die Impfstellen angreifen? Und: Nützt uns eine Impfpflicht in dieser Phase der Pandemie überhaupt? In der akutesten, dramatischsten Phase, die wir bisher durchleben?

Dieser Tage muss alles getan werden, um die Impfungen zu den Menschen zu bringen, dorthin, wo man gegen Corona-Schutzmaßnahmen demonstriert, dorthin, wo Geimpfte sich nicht outen, weil sie von ihrem Umfeld dafür ausgelacht oder geächtet würden.

Es muss immer und immer wieder vermittelt werden, wie gut die Impfung schützt. Es ist auszusprechen, dass aggressive Impfgegnerschaft und ihre politische Instrumentalisierung tödliche Verantwortungslosigkeit ist. Es ist auszusprechen, dass vor dem Tod von Corona-Infizierten Ärztinnen und Pfleger teils wochenlang intensiv um jedes einzelne Leben kämpfen und doch wissen, dass sie einen statistisch erschreckend genau bezifferbaren Teil ihrer Patientinnen und Patienten nicht werden retten können.

Impfpflicht für Menschen in bestimmten Berufen? Ja!

Zu den Grundsätzen der Pandemiebekämpfung gehört der Schutz von vulnerablen Gruppen. Ich bin daher ungeteilt für die verpflichtende Impfung von Menschen, die von Berufs wegen mit gesundheitlich Gefährdeten zu tun haben, in Gesundheitseinrichtungen, in Pflegeheimen etwa. Rechtlich wie ethisch ließe sich das gut begründen.

Ich hätte mir aber gewünscht, dass wir gar nicht an den Punkt kommen, über eine allgemeine Impfpflicht zu sprechen. Die Debatte darüber beginnt zehn nach zwölf. Lernen müssen wir daraus für kommende Krisen. Erst in diesem Sommer hat sich in einer verheerenden Hochwasserkatastrophe die Klimakrise manifestiert. Auch diese Krise war schon da. Zehn nach zwölf war es, als die Fluten Menschen und Gemeinden verschlangen.

Strafen fürs Nicht-Impfen? Ein Worst Case

Eine Erfahrung aus der Pandemie muss lauten, konsequent präventiv zu handeln, um Eingriffe in Grundrechte – und das wäre eine allgemeine Impfpflicht – zu verhindern. Im konkreten Fall: mehr Beteiligung zu wagen, einer mündigen Gesellschaft offene Fragen zuzumuten, statt gemeißelte Antworten zu geben. Nicht, eine allgemeine Impfpflicht wie vor Monaten geschehen ohne gesellschaftliche Debatte auszuschließen, um sie jetzt überstürzt und, ich wiederhole es, zehn nach zwölf einführen zu wollen. Eine allgemeine, gegebenenfalls strafbewährte Impfpflicht wäre ein verfassungsrechtlicher Worst Case. Die Frage zu klären, wie wir solche Situationen künftig verhindern, ist nicht Kür, sondern Pflicht.

Zu diskutieren wäre eine Impfpflicht breit, sehr breit. Im Bundestag, mit dem Ethikrat, mit den Bürgerinnen und Bürgern. Sie kann keine einsame Entscheidung von Politikerinnen und Politikern sein. Es ist ein Qualitätsmerkmal demokratischer Gesellschaften, Debatten zu so weitreichenden Fragen mit der notwendigen Gründlichkeit zu führen, abzuwägen, zuzuhören. Aber jetzt, in diesem Moment, müssen wir alle Anstrengungen darauf konzentrieren, was heute und auch morgen wieder nötig ist: impfen, impfen, impfen. Die konsequente Durchsetzung der Maßnahmen zum Schutz vor Corona. Das Nachjustieren der Instrumente, wo und wann nötig. Und der Schutz von Kindern, Jugendlichen, des Personals in den Gesundheitseinrichtungen, der Hochbetagten, der gesundheitlich besonders Gefährdeten.

Wolfram Günther

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