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Björn Höcke, AfD Thüringen (rechts) gratuliert Thomas Kemmerich (FDP) nach dessen Wahl zum Ministerpräsidenten.

© dpa/Bodo Schackow

Update

Ein Jahr nach dem Tabubruch von Thüringen: Was bleibt von der Causa Kemmerich?

Auch ein Jahr nach der AfD-gestützten Wahl von Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten ist die Sache für die FDP noch nicht vorbei. Eine Analyse.

Die eigene Bekanntheit ist für Politikerinnen und Politiker eine Art Währung. Im täglichen Kampf um die öffentliche Aufmerksamkeit gilt als erfolgreich, wer immer wieder Schlagzeilen produziert und für Reichweite sorgt. So gesehen hat der FDP-Politiker Thomas Kemmerich dazugewonnen, als er am 5. Februar 2020 mit den Stimmen der AfD zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt wurde.

Zwar stürzte er mit dem politischen Tabubruch seine Partei in die Krise und sandte eine Schockwelle durch die gesamte Republik. Die Empörung war riesig, die Kanzlerin intervenierte, schließlich trat Kemmerich nach drei Tagen zurück. Doch zumindest seine Bekanntheit hat er deutlich gesteigert: Fast 90 Prozent der Thüringerinnen und Thüringer kennen ihn heute, wie eine Insa-Umfrage im vergangenen Jahr zeigte. Vor der Landtagswahl 2019 war er nur einem von fünf Wählern bekannt.

Business as usual in Erfurt

An diesem Freitag jährt sich das „Fiasko von Thüringen“, wie FDP-Chef Christian Lindner die Kemmerich-Wahl einmal nannte, zum ersten Mal. Was bleibt übrig von dem Fall? Welche Lehren haben die Liberalen daraus gezogen? Und wie geht es jetzt weiter mit der FDP im Freistaat?

Kemmerich, das steht ein Jahr danach fest, will auf jeden Fall weitermachen. Bis zum Jahresende 2020 wollte er sich Bedenkzeit geben, um zu entscheiden, welche Rolle er „künftig in der Partei noch ausfüllen kann und will“, sagte er im Mai. Er war damals für seine Teilnahme an einer von Rechtsextremen mitorganisierten Demonstration heftig kritisiert worden; Parteifreunde warfen ihm vor, zum zweiten Mal binnen weniger Monate Zweifel an der Abgrenzung der FDP nach Rechtsaußen geweckt zu haben. Bei der Organisation der Demo in Gera hatten stadtbekannte Rechtsradikale mitgeholfen.

„Es mag sein, dass im Hintergrund auch vereinzelt Strippenzieher aus der rechten Szene aktiv waren“, sagt dazu heute ein Sprecher der Thüringer FDP-Fraktion. „Dies war aber Herrn Kemmerich in keinster Weise bekannt, noch war es vor Ort für ihn und andere erkennbar. Entsprechend hat sich auch die rot-rot-grüne Landesregierung geäußert.“

In einer Antwort auf Fragen von Linken-Abgeordnete hatte die Thüringer Landesregierung im Mai 2020 schriftlich erklärt, dass der „ganz überwiegende Teil“ der circa 700 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Demo „dem bürgerlichen Spektrum zuzuordnen“ gewesen sei. „Einzelne Teilnehmer waren den polizeilichen Einsatzkräften vor Ort von Versammlungen der rechten Szene im Bereich Gera visuell bekannt.“

Auf der Demo war auch eine Frau mit einem großen umgehängten Davidstern mitgelaufen – das Symbol taucht immer wieder im radikalen „Querdenker“-Milieu auf. Auch AfD-Leute nahmen an dem „Spaziergang“ teil, bei dem Kemmerich eine Rede hielt. Im Nachgang entschuldigte er sich dann für den Auftritt. Er habe der AfD keine Bühne geben wollen, habe „das aber leider getan“, sagte er.

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Als Reaktion auf die parteiinterne Kritik, die bis zu Austrittsforderungen reichte, zog sich Kemmerich vorübergehend aus dem Bundesvorstand zurück. Es wurde ruhiger um ihn. Als Fraktionschef im Landtag macht er seither vor allem „business as usual“: reguläre Oppositionsarbeit mit Kritik an den nächtlichen Ausgangssperren in Thüringen oder den Homeschooling-Plänen der Landesregierung.

Die selbst gesetzte Bedenkzeit zum Jahresende hat Kemmerich tatenlos verstreichen lassen. Seine Mitgliedschaft im FDP-Bundesvorstand ruht nach wie vor – vermutlich bis Mitte Mai, wenn das Spitzengremium neu gewählt wird. Würde Kemmerich dann wider Erwarten noch einmal antreten, hätte er wohl keine Chance. Er gilt in der Bundes-FDP als „verbrannt“, das Verhältnis zur Parteispitze als zerrüttet.

„Meine Mission ist noch nicht vollendet“

Auf der Landesebene will Kemmerich jedoch weiter vorne mitspielen. „Meine Mission ist noch nicht vollendet“, lautet die zentrale Botschaft, die er in Interviews immer wieder aussendet. Beim nächsten Parteitag – das Datum steht noch nicht fest – will er erneut als Landesvorsitzender kandidieren. Seine Aussichten, sagen Insider, seien nicht schlecht.

Damit dürfte das Kemmerich-Problem für die FDP nicht so schnell verschwinden, auch wenn die Parteispitze zuletzt einen Teilerfolg im Machtkampf gegen den Thüringer Landeschef erzielte. Lindner, Generalsekretär Volker Wissing und die 15 Landesvorsitzenden drängten Kemmerich im November zum Verzicht auf eine erneute Spitzenkandidatur bei der Thüringer Landtagswahl – und drohten, die Unterstützung für den Wahlkampf zu entziehen. FDP-Plakate mit Kemmerichs Gesicht darauf wollte man im Superwahljahr wohl nicht sehen. Der gab dem Druck nach und will nun „eine andere Person“ vorschlagen.

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Zusätzlich verschafft die coronabedingte Verschiebung der Thüringer Landtagswahl auf den 26. September der FDP-Führung zumindest in der ersten Hälfte des Superwahljahrs etwas Ruhe. Sollte Kemmerich aber bis dahin als Landeschef bestätigt werden, könnte er parallel zur Bundestagswahl wieder in den öffentlichen Fokus rücken.

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Die FDP-Bundestagsfraktion hat indes ihre eigenen Konsequenzen aus dem Thüringen-Debakel gezogen: Im Sommer 2020 setzte sie eine Arbeitsgruppe ein, um Strategien für den Umgang mit den Rechtspopulisten im Parlament zu finden. Auf dass sich die FDP nie mehr von der AfD vorführen lasse, will man sich deutlicher zu den Sitznachbarn rechts im Plenum abgrenzen – etwa durch Enthaltungen, wenn die AfD einen Ausschussvorsitzenden vorschlägt.

Vor allem für die FDP-Abgeordneten aus dem Osten, wo die Rechtspopulisten teils die Stärke einer Volkspartei haben, stellt sich die Herausforderung der Abgrenzung allerdings immer wieder aufs Neue. Die AfD zu verdammen – und damit auch ihre Wählerinnen und Wähler – können sie sich kaum leisten. Bei manchen von ihnen ist außerdem die Berührungsangst vor der Linken größer als vor der AfD.

Tabubruch oder Dienst an der Demokratie?

Auch das hat die Causa Kemmerich gezeigt: Dass das Politikverständnis zwischen Ost und West teils noch immer stark auseinanderklafft. Während viele in der West-FDP die Kemmerich-Wahl für unverzeihlich halten, sehen sie manche im Osten als „Dienst an der Demokratie“. Für die von Westdeutschen dominierte Parteispitze ist es nicht leicht, zwischen diesen Positionen zu vermitteln.

Dazu hat der Fall eine weitere offene Flanke in der FDP aufgezeigt: Die Spitzenfunktionäre der Partei beschwören zwar gerne den „ganzheitlichen Liberalismus“, der ohne Flügelkämpfe und Streit zwischen den Strömungen auskomme. Doch hinter vorgehaltener Hand geben Parteistrategen durchaus zu, dass in der FDP einen „rustikalen Teil“ gebe – dessen Anhänger stramm wirtschaftsliberal und gesellschaftspolitisch konservativ ticken, so wie Kemmerich. Das zeigt auch die aktuelle Diskussion innerhalb der Partei, ob man sich mit Umweltthemen oder Fragen der kulturellen Vielfalt nicht zu sehr dem „Zeitgeist“ unterwerfe.

Kemmerich scheint indes die Empörung vieler Parteikollegen noch immer nicht so recht nachvollziehen zu können. Er würde heute zwar „vieles anders“ machen als im Februar 2020, sagte er vergangene Woche der Zeitschrift „Cicero“. Zugleich weist er auch ein Jahr danach die alleinige Verantwortung für das „Fiasko von Thüringen“ zurück. „Ich habe nicht gefoult, sagte er. „Ich bin der Gefoulte.“

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