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Sebastian Kurz war 31 Jahre alt, als er 2017 Bundeskanzler von Österreich wurde.

© Herbert Neubauer/APA/dpa

Demokratie als Generationenfrage: Was das Alter von Politikern über ihr Land verrät

Weltweit werden Regierungschefs immer älter – in Europa jedoch immer jünger. Diese „Alterspyramode“ kann als Krisensymptom gelesen werden. Ein Gastbeitrag.

Michael Bröning ist Mitglied der SPD-Grundwertekommission und Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in New York.

Als der Moderator in der entscheidenden TV-Debatte im US-Präsidentschaftswahlkampf 1984 fragte, ob Reagan mit 73 Jahren nicht zu alt sei für das Amt, antwortete dieser mit einem Satz für die Geschichtsbücher: Er weigere sich, die Frage des Alters zum Wahlkampfthema zu machen und somit die „Jugend und Unerfahrenheit“ des Gegenkandidaten „für politische Zwecke auszunutzen“.

Dem mehr als 20 Jahre jüngeren Konkurrenten der Demokraten verschlug es die Sprache, und Reagan erzielte einen Erdrutschsieg.

Mit Joe Biden (78) haben die USA nun den ältesten Präsidenten ihrer Geschichte. Dieselbe Entwicklung zeichnet sich auch in weiten Teilen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ab. Seit den 1950er Jahren ist das Durchschnittsalter von Staats- und Regierungschefs weltweit gestiegen, zeigen Daten der University of Tennessee. Der Altersdurchschnitt ist seit 1950 um mehr als zwei Jahre nach oben gegangen - auf heute stattliche 64 Jahre.

Können die Interessen junger Menschen dabei noch Gehör finden? Droht der Welt nicht eine Gerontokratie?

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Zumindest in Europa ist eher das Gegenteil der Fall. Von einer Herrschaft der Alten kann dort auf Ebene der Staats- und Regierungschefs keine Rede sein. Seit den 50er Jahren ist das Durchschnittsalter der in der OECD von über 60 auf heute 54 Jahre gesunken. Sebastian Kurz wurde mit 31 österreichischer Bundeskanzler, die finnische Premierministerin Sanna Marin übernahm mit 34 die Regierung, Emmanuel Macron zog mit 39 in den Elysée-Palast. Und erst vergangene Woche wählte Estland die 43-jährige Kaja Kallas an die Spitze der Regierung.

Von progressiven Kräften wird der politische Erfolg der Jungen als Signal des Aufbruchs und des Fortschritts gewertet. Das mag im Einzelfall zutreffen, doch als Trend ist pauschale Begeisterung über junge Entscheidungsträger so wenig gerechtfertigt wie Sorge über alte. Nicht zuletzt Europas rechte Parteien von Dänemark, Belgien und Frankreich bis nach Spanien werden schließlich entscheidend von jungen Parteikarrieristen getragen.

In älteren Gesellschaften sind junge Politiker gut fürs Image der Partei

Doch wo liegen die Ursachen für den Erfolg der jungen Garde auf dem alten Kontinent? Und wie lässt sich das Beharren der Alten anderswo erklären?

Klar ist: An kulturalistischen Erklärungsansätzen herrscht kein Mangel. In dieser Lesart liegt es schlicht an der Dominanz traditioneller Werte, die in Europa überwunden wurden aber etwa in asiatischen und afrikanischen Wahlgängen den Alten die Stimmen zutreiben. Tatsächlich jedoch liefert die Wahlforschung hier kein einheitliches Bild. Sie zeigt lediglich, dass Wählerinnen und Wähler Kandidaten leicht bevorzugen, die so alt sind wie sie selbst. Die Alterspräferenz ist weit weniger entscheidend als ideologische Fragen.

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Vielversprechender ist deshalb der Blick auf das politische System und die Rolle, die Parteien in ihren spielen. So gibt es deutliche Hinweise darauf, dass Systeme mit eher starken politischen Parteien für junge Kandidaten bessere Startbedingungen bieten als Präsidialsysteme. Der Grund: Gerade Parteien in älteren Gesellschaften bemühen sich, durch bewusste Förderung junger Spitzenleute, das eigene Image zu modernisieren.

Daran anknüpfend jedoch zeigt sich, dass die Verjüngung in der europäischen Spitzenpolitik auch als krisenhaftes Symptom gesehen werden kann. Denn sie belegt nicht zuletzt die Enttäuschung vieler Wählerinnen und Wähler mit den etablierten politischen Kräften. Der kometenhafte Aufstieg eines Emanuel Macron und eines Sebastian Kurz enthält zumindest auch eine populistische Dimension.

Altersfragen werden als Thema immer bedeutender

Oder liegt es an der Kommunikation? In dieser Lesart haben jüngere Kandidaten, die die Regeln des Netzes verinnerlicht und gerade in westlichen Mediendemokratien einen Vorteil. Die Ambivalenz jedoch liegt auf der Hand: Denn wenn allein Geschwindigkeit und Agilität in gesellschaftlichen Debatten entscheiden, ist das zwar ein Gewinn für „Digital Natives“, nicht aber für die demokratische Willensbildung insgesamt.

Der Vorteil der Online-Expertise junger Spitzenpolitiker in Europa ist anderswo ein Nachteil. In aktuellen Wahlen in afrikanischen Demokratien zumindest - wie zuletzt etwa in Nigeria, Zimbabwe, Malawi und Ghana - ließ sich die Online-Raffinesse junger Kandidaten kaum in Erfolg ummünzen, analysiert Joseph Adebayo, der sich an der Universität Kapstadt mit Wahlen befasst.

Gerade junge Kandidaten hätten zu stark auf Online-Methoden setzen und dabei direkte Kommunikation und persönliche Mobilisierung vernachlässigt, ist er überzeugt.

Diesen Widerspruch zwischen dem jungen Afrika und dem alten Europa können diese Hinweise nicht abschließend klären. Doch sie lassen erwarten, dass die Rolle von Alter und Jugend in demokratischen Auseinandersetzungen der Zukunft eher weiter wachsen wird. Der Ansatz, Altersfragen nicht „für politische Zwecke“ zu instrumentalisieren dürfte sich so wenig machbar sein wie schon 1984, als sich das Leugnen der Altersfrage durch Ronald Reagan als geschickte Instrumentalisierung erwies.

Michael Bröning

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