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Politik: Was Europa aushält

BERLUSCONI UND TRICHET

Von Christoph von Marschall

Europa als Hort von Demokratie und Rechtsstaat – ein schöner Anspruch. Und die Wirklichkeit? In Italien hält sich Regierungschef Silvio Berlusconi mit einem maßgeschneiderten Immunitätsgesetz die Justiz vom Leib, die ihm Richterbestechung vorwirft. Dieser Mann soll in zwei Wochen die EUPräsidentschaft übernehmen und ganz Europa repräsentieren. In Frankreich wird Nationalbankpräsident Jean-Claude Trichet im Strafprozess um milliardenschwere Bilanzfälschung freigesprochen, obwohl die Beweislage nicht gerade dürftig war. Ist auch da politische Pression im Spiel, damit Trichet demnächst Wim Duisenberg an der Spitze der Europäischen Zentralbank ablösen und Herr über den Euro werden kann? In Großbritannien untersucht eine Parlamentskommission, ob Tony Blair die Abgeordneten belog, als er die Beteiligung am Irak-Krieg begründete. Auch Deutschland hat seinen Lügenausschuss. Und keine weißere Weste als die EU-Partner bei den teuren Betrügereien mit EU-Geldern, die immer häufiger Schlagzeilen machen.

Europa gibt sich jetzt eine Verfassung, Inbegriff von Werten und Ordnung; zugleich erweitert sich die EU, weil viele Millionen Menschen diesem Europa der Demokratie und des Rechtsstaats angehören wollen. In dieser Ära historischer Vollendung taucht plötzlich ein abstoßendes Bild am Horizont auf: die EU als politischer Moloch, in dem die checks and balances nicht mehr funktionieren, in dem zweifelhafte Figuren in höchste Ämter gelangen und Macht missbrauchen, in dem demokratische und juristische Kontrolle versagen, in dem Korruption, Lüge und Betrug zum Alltag gehören. Ist Europa dabei zu zerstören, was seinen Wert ausmacht?

Solche Warnungen muss man ernst nehmen. Was in Italien geschieht, ist ziemlich unappetitlich, einerseits; ein mutmaßlicher Rechtsbrecher Berlusconi als EU-Ratspräsident, der zudem die gewohnte Gewaltenteilung verweigert und seine Medienmacht für politische Ziele missbraucht – das verträgt sich nicht mit dem politisch-moralischen Anspruch und dem Rechtsverständnis der EU. Andererseits könnten die Verfahren gegen den Regierungschef derzeit gar nicht geführt werden, wenn es in Italien die anderswo übliche Immunitätsregel für Abgeordnete (der Berlusconi ja auch ist) schon gegeben hätte. Und ohne die Berichte darüber würde das übrige Europa sich nicht ganz so aufregen über den Fall.

Die EU hat schon ähnliche Kaliber im Vorsitz erlebt und überlebt, denen schwere Vergehen vorgeworfen wurden: den Griechen Andreas Papandreou, den Franzosen Francois Mitterrand, den Italiener Giulio Andreotti, der sogar wegen Verwicklung in politische Morde vor Gericht stand. Die EU hat den Österreicher Haider und die ÖVP-FPÖ-Koalition in Wien unbeschadet überstanden.

Und was Trichet betrifft: Es wäre zwar eine hübsche Pointe der Geschichte, wenn Präsident Chiracs Erpressung noch durchkreuzt würde; er hatte den EU-Partnern 1998 aufgezwungen, dass EZB-Präsident Duisenberg nach halber Amtszeit Platz für Trichet macht. Aber wäre es besser, wenn ein fachlich weniger qualifizierter Franzose oberster Euro-Hüter wird?

Soll es uns also egal sein? Darf es uns beruhigen, dass Europa die Berlusconis, Haiders und Trichets aushält? Nein. Solche Skandale sind keine innenpolitische Angelegenheit mehr. Sie gehen uns alle an, weil Europa zusammenwächst. Deshalb dürfen und sollen wir auch unsere moralischen Maßstäbe anlegen. Europa kann solche bösen Einzelfälle verkraften – aber nur, weil die europäische Öffentlichkeit funktioniert. Die kritischen Fragen nach Recht, Moral und politischen Maßstäben haben die nationalen Grenzen längst überwunden. Das macht Europa stark.

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