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Rechtes Lager wohl mit hauchdünner Mehrheit: Schweden erlebt „valrysare“ – einen Wahl-Thriller
Erst wird dem Regierungslager bei der Parlamentswahl ein knapper Vorsprung prognostiziert, dann kippt das Ganze während der Auszählung zugunsten der Konservativen – Ausgang offen.
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Der dramatische Wahlkrimi in Schweden geht in die Verlängerung: Frühestens am Mittwoch soll nun das vorläufige Ergebnis der schwedischen Parlamentswahl feststehen. Erst dann seien die Stimmen aus dem Ausland sowie verspätete vorzeitig abgegebene Stimmen ausgezählt worden, teilte die Wahlbehörde am Montag der Nachrichtenagentur TT mit. Großer Gewinner der Wahl sind aber schon jetzt die rechtsnationalen Schwedendemokraten (SD).
Nach den bis Montag vorliegenden Ergebnissen hat das rechte Parteienbündnis einen hauchdünnen Vorsprung vor dem linken Wahlbündnis von Ministerpräsidentin Magdalena Andersson. Nach Auszählung von 95 Prozent der Wahlbezirke kam das rechte Lager auf 49,8 Prozent der Stimmen und damit auf 175 der insgesamt 349 Mandate im Parlament in Stockholm. Das ist ein Sitz mehr als das Linksbündnis, das demnach 48,8 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte.
Insgesamt trennen die beiden Lager nur wenige zehntausend Stimmen. Trotz des knappen Abstands halten Politikwissenschaftler es für unwahrscheinlich, dass sich das Ergebnis noch einmal umdrehen wird.
Ministerpräsidentin Andersson, deren Sozialdemokraten mit mehr als 30 Prozent stärkste Kraft im Parlament bleiben, rief die Bürger auf, „Geduld zu haben“ und „der Demokratie ihren Lauf zu lassen“. „Heute werden wir noch kein Endergebnis haben“, sagte sie. Oppositionsführer Ulf Kristersson wies ebenfalls auf den noch offenen Ausgang hin, erklärte sich jedoch bereits bereit, „eine neue und starke Regierung zu bilden“.
Das Rechtslager aus Kristerssons Moderaten, Christdemokraten und Liberalen hatte vor der Wahl mit einem Tabu gebrochen und war erstmals ein Bündnis mit den rechtsradikalen Schwedendemokraten eingegangen. Diese kamen laut den bisher ausgezählten Stimmen auf 20,7 Prozent und rückten damit erstmals in der Geschichte Schwedens zur zweitstärksten Kraft auf, noch vor den Moderaten mit 19 Prozent.
Erste Prognosen hatten zunächst das linksgerichtete Lager in Führung gesehen

© Foto: AFP/ JONATHAN NACKSTRAND
Nach Auszählung von etwa der Hälfte der Wählerstimmen kippte das Ganze dann zugunsten des konservativen Herausforderers Ulf Kristersson - auch dank des historisch starken Abschneidens der rechtspopulistischen Schwedendemokraten. Ursprünglich war ein vorläufiges Ergebnis bereits in der Wahlnacht erwartet worden.
Das Kopf-an-Kopf-Rennen war so knapp, dass sich viele Spitzenpolitiker am Abend zunächst mit Aussagen zurückhielten. Nur ein Wort fiel auf den verschiedenen Wahlpartys immer wieder: „Spannend!“ Die schwedischen Medien sprachen von einem „valrysare“ - einem Wahl-Thriller.
Die acht Parlamentsparteien teilen sich in Schweden derzeit in zwei Vierergruppen auf - einen linksgerichteten und einen konservativen Block. Anderssons Seite verfügte vor der Wahl über die minimale Mehrheit von 175 der 349 Parlamentssitze, Kristerssons Block über 174.
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Rechtes Lager wohl mit hauchdünner Mehrheit
Kristerssons Moderate müssen zwar als einzelne Partei mit ihrem schwächsten Wahlergebnis seit 20 Jahren rechnen, doch sein konservativer Vier-Parteien-Block einschließlich der rechtspopulistischen Schwedendemokraten lag nach Auszählung fast aller Stimmen 0,9 Prozentpunkte vor dem Lager von Andersson. Die Wahlbehörde sah seine Riege bei 176 Mandaten, Anderssons bei 173.
Alle Vorsitzenden der acht Parlamentsparteien betonten in der Wahlnacht, dass das Rennen noch nicht gelaufen sei. „Wir wissen nicht, wie das enden wird“, sagte auch Kristersson. Zugleich betonte er, er sei bereit, eine neue und tatkräftige Regierung zu schaffen.
Aller Voraussicht nach dürfte er auf diesem Weg auf einen angewiesen sein, der bei Wahlen bislang immer außen vor gelassen wurde: dem Chef der Rechtspopulisten, Jimmie Åkesson. „Wir sind heute eine richtig große Partei“, sagte er vor jubelnden Parteianhängern. 2010 habe die Partei 5,7 Prozent der Stimmen erhalten - nun dürften es wohl 20,7 Prozent sein.
Wir wissen nicht, wie das enden wird.
Ulf Kristersson
Damit werden die Schwedendemokraten erstmals noch vor den Moderaten zweitstärkste Kraft. Für Åkesson ergeben sich daraus Ansprüche. „Unsere Ambition ist es, mit in der Regierung zu sitzen“, machte er klar.
Unabhängig vom Wahlausgang dürfte Schweden wie schon nach der Parlamentswahl vor vier Jahren eine langwierige Regierungsbildung bevorstehen. Der konservativ-rechte Block setzt eigentlich auf Kristersson - der Vorsitzende der Schwedendemokraten, Jimmie Åkesson, könnte angesichts des starken Abschneidens seiner Partei jedoch ebenfalls Ansprüche anmelden.

© Foto: REUTERS/TT NEWS AGENCY
Andersson wurde erst im November 2021 als Nachfolgerin ihres Parteikollegen Stefan Löfven und als erste Frau überhaupt zur Ministerpräsidentin von Schweden gewählt. Die frühere Finanzministerin führte seitdem eine rein aus Sozialdemokraten bestehende Minderheitsregierung, die im Reichstag bisher auf die Unterstützung der liberalen Zentrumspartei, der Linken und der Grünen angewiesen ist.
Kristersson setzt derweil auf Moderate, Christdemokraten und Liberale - und die zuvor lange Zeit komplett außen vor stehenden Schwedendemokraten.
Amtsinhaberin besorgt über Wahlausgang
Bei ihrem letzten Wahlkampfauftritt am Samstag in Stockholm zeigte sich die Amtsinhaberin Andersson „besorgt über eine Regierung, die völlig von den Schwedendemokraten abhängig ist“. Das wäre „ein anderes Schweden, das wir für vier Jahre haben würden“.
Ihr Herausforderer Kristersson hatte als erster konservativer Parteichef eine Kehrtwende seiner Partei eingeläutet: 2019 nahm er Gespräche mit den nationalistischen und einwanderungsfeindlichen Schwedendemokraten um Parteichef Jimmie Akesson auf. Später zogen seine Bündnispartner, Christdemokraten und Liberale, nach.
Im Fokus des Wahlkampfes standen diesmal vor allem die zunehmende Kriminalität und gewalttätige Banden, Einwanderung und misslungene Integration sowie die steigenden Energiepreise - Themen, mit denen die Schwedendemokraten punkten könnten.
Partei aus Neonazi-Bewegung hervorgegangen
Das Ende der politischen Isolation der Schwedendemokraten und die Aussicht, zur größten rechten Partei zu werden, sei „eine enorme Veränderung in der schwedischen Gesellschaft“, sagte Anders Lindberg von der Zeitung „Aftonbladet“.
Die aus der Neonazi-Bewegung Ende der 1980er Jahre hervorgegangene Partei um Parteichef Jimmie Akesson war 2010 mit 5,7 Prozent der Stimmen erstmals in den schwedischen Reichstag eingezogen, 2018 erreichten sie bereits 17,5 Prozent.
Ihr Aufstieg in den vergangenen zehn Jahren fällt mit einer deutlichen Zunahme der Zahl der Einwanderer zusammen. Schweden mit seinen zehn Millionen Einwohnern nahm in diesem Zeitraum fast eine halbe Million Asylbewerber auf. Die klare Ablehnung von Zuwanderung und gleichzeitige Verteidigung des schwedischen Wohlfahrtsstaats haben die Schwedendemokraten bei unteren Einkommensschichten und Rentnern beliebt gemacht.
Die Wahlbeteiligung ist in Schweden traditionell hoch: Im Jahr 2018 hatte sie bei 87 Prozent gelegen, dem höchsten Wert seit 30 Jahren. Eine viermonatige Pattsituation wie bei der Wahl 2018 wäre diesmal ein Alptraumszenario. Wirtschaftskrise, der Nato-Beitritt und die EU-Ratspräsidentschaft 2023 stellen die künftige Regierung vor enorme Herausforderungen. „Der Druck, eine geeinte und effektive Regierung zu bilden, ist heute größer als bei der letzten Wahl“, sagte Barrling der AFP. (AFP, dpa)
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