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Wahlplakate mit dem Konterfei von Ulf Kristersson und Magdalena Andersson in Stockholm

© Foto: AFP/Jonathan Nachstrand

Wahlen zum Reichstag: „Schwedische Epidemie“ könnte Rechte mit an die Macht bringen

Gangkriminalität ist ein zentrales Wahlkampfthema in Schweden. Regierungschefin Andersson will Ruhe ausstrahlen. Die Rechten wollen aus Angst politisches Kapital schlagen.

Von Julia Wäschenbach

| Update:

Schweden, Sehnsuchtsland der Deutschen. Rote Holzhäuschen, Seen mit Wäldern zum Blaubeeren-Pflücken drumherum, so weit das Auge reicht. Ein Idyll, wie es Millionen aus Astrid-Lindgren-Büchern kennen. Ein Land, das geprägt ist von politischer Liberalität und Offenheit. Und das ist Schweden auch noch.

Doch schon seit Jahren brodelt es in diesem Idyll, und wer Nachrichten liest, der fragt sich, wie das sein kann: Jeden Tag Schusswechsel in einer anderen Stadt. Tote, Verletzte. Mal in einem Vorort von Stockholm, mal in Malmö, manchmal auch weit draußen in der Provinz. Und wieso das anscheinend niemand verhindern kann.

Dieser Frage musste sich im schwedischen Wahlkampf vor allem die sozialdemokratische Regierungschefin Magdalena Andersson stellen. Am Sonntag wird sich an den Wahlurnen zeigen, ob ihre Landsleute ihr den Kampf gegen die eskalierende Bandengewalt zutrauen. Denn das Thema bewegt Schweden wie kein zweites.

Im Wahlkampf hatte Andersson vor allem versucht, Ruhe auszustrahlen. Doch manchmal kam die 55-Jährige, die erst im vergangenen November Schwedens erstes weibliches Regierungsoberhaupt wurde, damit auch nicht weiter. Zum Beispiel, als in Eskilstuna westlich von Stockholm Schüsse auf einem Spielplatz fielen – und nicht Mitglieder einer Bande, sondern einen fünfjährigen Jungen und seine Mutter trafen.

Schwedens Regierungschefin Magdalena Andersson im Wahlkampf

© Foto: AFP/TT News Agency/Pontus Lundahl

Chefs der großen Parteien eilten daraufhin in die Stadt, die nicht zum ersten Mal Schauplatz von Bandenkämpfen ist. „Die brutale und rücksichtslose Gewalt, die unsere Gesellschaft plagt, muss aufhören“, sagte Andersson.

Genau das aber, diese Gewalt zu stoppen, traut er ihr jedoch nicht zu: Jimmie Åkesson, politisch ganz rechts, Anderssons größter Konkurrent.

„Die Sozialdemokraten bekommen die Bandengewalt nicht in den Griff“, sagte Åkesson in Eskilstuna. Seine Anti-Einwanderungs-Partei profitiert seit Jahren von der sich immer schneller drehenden Gewaltspirale, weil diese vor allem Migrantenmilieus betrifft.

Eine Umfrage im Auftrag der Tageszeitung „Dagens Nyheter“ von Anfang September bestärkt die rechtspopulistischen Schwedendemokraten in ihrer Linie. 35 Prozent der Befragten haben demnach das größte Vertrauen in Åkessons Partei bei den Themen Einwanderungspolitik und Gangkriminalität.

Jimmie Åkesson, Parteichef der Schwedendemokraten, in Eskilstuna

© Foto: Imago/TT/Per Karlsson

Andersson klingt dagegen schon fast etwas kapitulierend, als sie in einer Fernsehdebatte in dieser Woche von den Schießereien als einer „schwedischen Epidemie“ spricht. „Man erkennt Schweden gar nicht mehr wieder.“

Und genau das ist es, was den Schweden Angst macht: Wie sehr die Gewalt um sich greift. Dass sie auch spielende Kinder und ihre Eltern treffen kann. Oder Jugendliche wie das zwölfjährige Mädchen, das 2020 an einer Tankstelle in Botkyrka starb, weil es zufällig in das Feuer rivalisierender Gangs geriet, die aus einem Auto schossen.

Die Polizei hat keine gute Erfolgsbilanz.

Karl Loxbo, Politikwissenschaftler

Und die Polizei? Ist zu oft hilflos und chronisch unterbesetzt, sagen viele. Im Fall der Schüsse auf dem Spielplatz ist nach Wochen immer noch kein Täter gefasst.

„Die Polizei klärt vielleicht einen von zehn Morden auf, sie hat keine gute Erfolgsbilanz“, sagt der Stockholmer Politikwissenschaftler Karl Loxbo. Deshalb ist eines von Anderssons Wahlversprechen, in den kommenden Jahren 50.000 neue Mitarbeiter für die Polizei zu rekrutieren.

Ein Polizeiwagen am Schauplatz der tödlichen Schüsse in Eskilstuna

© Foto: Imago/TT/Per Karlsson

Schwedens Sozialdemokraten haben sich in den vergangenen Jahren schrittweise wegbewegt von einer liberalen und großzügigen Zuwanderungspolitik. 2015 war Schweden in der „Flüchtlingskrise“ das europäisches Land, welches anteilig zur eigenen Bevölkerung am meisten Migranten aufgenommen hat. Inzwischen sind viele Schweden nicht mehr so offen für Einwanderung, wie sie es einmal waren.

Soziale Probleme, Segregation und Kriminalität prägen den Alltag in vielen Kommunen. Ausländergesetze für Aufenthaltserlaubnis, Familiennachzug oder Staatsbürgerschaft wurden verschärft.

Andersson, die wegen ihrer besonnenen Art gerne mit Angela Merkel verglichen wird, ist bei den Schweden äußerst beliebt. Den Wahlkampf haben die Sozialdemokraten deshalb vor allem auf sie zugeschnitten. Sie hat es verstanden, ihre Partei durch schwieriges Fahrwasser zu führen und aus einem Umfragetief herauszuholen.

Die Moderaten wären auf die Rechten angewiesen

Verlierer des stark auf die Bandengewalt fokussierten Wahlkampfs ist die Moderaterna, die bürgerliche Partei aus der Mitte des politischen Spektrums. Sie laufe Gefahr, von vielen Schweden als „Lightversion der Schwedendemokraten“ aufgefasst zu werden, sagt der Politikwissenschaftler Jonas Hinnfors. Um aus der Wahl überhaupt als Sieger hervorgehen zu können, ist die Moderaterna auf die Rechten angewiesen. Sie zu ignorieren, können sich die Moderaten nicht mehr leisten – das ist vor der Wahl wohl die niederschmetterndste Erkenntnis für deren Parteichef Ulf Kristersson.

Zum ersten Mal in der Geschichte Schwedens könnte so mit den Schwedendemokraten eine Partei mit rechtsextremistischen Wurzeln an der Regierung beteiligt sein. Für mögliche Koalitionsverhandlungen hat Jimmie Åkesson schon eine ganze Liste an Forderungen an die Moderaterna. Die Ausweisung von mehr kriminellen Ausländern gehört dazu, außerdem fordert die Partei schärfere Strafen, ein niedrigeres Alter für die Strafmündigkeit sowie mehr Mittel für Justiz und Polizei.

Der Wahlslogan der Schwedendemokraten – „Sverige skal bli bra igen“, „Schweden soll wieder gut werden“ – erinnert an Donald Trumps „Make America Great Again“. In einem Wahlvideo listet der charismatische Åkesson alles auf, was Schweden statt Schießereien und Gangkriminalität wieder ausmachen soll – von bunten Holzhäuschen über das gemütliche Kaffeetrinken bis hin zu Mittsommer und Elchen.

Das Spiel mit der Angst der Schweden wird so zur Wahltaktik. Ob die Rechten damit tatsächlich so einen Erfolg einfahren können, dass sie Teil der künftigen schwedischen Regierung werden, ist fraglich. Dass sie stark aus der Wahl hervorgehen werden, scheint aber sicher.

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