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Bedeutet der straffreie Zug am Joint wirklich Freiheit? Und sollte die mitbestimmen, wer ab September im Bundestag sitzt?

© Britta Pedersen/dpa

Wahlentscheidung: Wenn Cannabis über das Kreuz entscheidet

Manchmal sind es die kleinen Themen, die eine Partei sympathisch oder unmöglich machen. Das kann gefährliche Folgen haben. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Nantke Garrelts

Sie spalten und zwar garantiert: Sogenannte „wedge issues“, also Keilthemen, die eine Gruppe schnell in zwei oder mehr Lager teilen. In der Großen Koalition sorgte das Thema Flüchtlingszuwanderung 2018 fast für eine Spaltung. Bis heute treiben Fragen wie Cannabislegalisierung oder die Abschaffung des Abtreibungsverbots die liberalen und die konservativen Parteien in entgegengesetzte Seiten des Raumes.

Fragen wie „Bist Du Feminist?“, „Isst Du Fleisch?“ oder „Nimmst Du Fahrrad oder Auto?“ polarisieren auch unter Freunden. Und sie beeinflussen die Wahlentscheidung. Der Psychologe Gerd Gigerenzer beschreibt drei Typen von Wähler:innen: Stammwähler:innen, soziale Wähler:innen und Wechselwähler:innen.

Wechselwählen ist politisch reif

Letztere seien zwar die demokratisch reiferen, weil sie oft versuchen, eine möglichst informierte Entscheidung anhand der Wahlprogramme der verschiedenen Parteien zu treffen, meint Gigerenzer. Letztendlich geben aber auch sie sich meist der Flut der Informationen geschlagen und entscheiden anhand der Aspekte, die ihnen persönlich am wichtigsten sind.

Das Problem: Hat man erst einmal ein subjektiv wichtiges Thema identifiziert, lässt man alle anderen Punkte außer Acht. Der Wahlforscher Achim Goerres beobachtet zugleich eine Zunahme der Wechselwähler:innen. Reizthemen dürften bei Wahlen also eine zunehmend wichtige Rolle spielen.

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Aber sollte man das: sich von Stellvertreterthemen reizen, sich von den persönlichen Prioritäten leiten lassen? Sollten Singles sich nicht auch mit Familienpolitik auseinandersetzen und Fließbandarbeiter:innen mit Spitzensteuersätzen? Darf man im Kampf um den legalen Joint beim Festival die Arbeitsmarktpolitik außer Acht lassen?

Sicher darf man – man sollte nur nicht. Den vollständig rationalen Wähler gibt es nicht. Wenn Politiker:innen selbst Reformen aus Prinzip oder persönlichen Vorlieben ablehnen oder weil sie ihre Stammwählerschaft halten möchten, dann sagt das viel über die Parteien und ihr Personal.

Dem ersten Impuls zu folgen, bedeutet aber auch, die Spaltung der Gesellschaft voranzutreiben und sich von Keilthemen wie ein Schaf in eine Ecke scheuchen zu lassen. Mündiger wird man dadurch nicht. Ein Reizthema kann in der politischen Auseinandersetzung auch schnell überproportional viel Gewicht bekommen im Vergleich dazu, welche Rolle es im Alltag der Menschen spielt.

Lieber durchatmen und informieren

Eine Umfrage vor der Bundestagswahl 2017 zeigte, dass die Terrorismusbekämpfung das zweitwichtigste Thema direkt hinter Schule und Bildung war – dabei liegt die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland durch einen Terroranschlag zu erleben, bei eins zu 27,3 Millionen. Und für die wenigsten, die sich über Aussage der Drogenbeauftragten Daniela Ludwigs, dass Cannabis eben kein Broccoli und deshalb illegal sei, lustig machen oder Jens Spahns harte Linie bei der Sterbehilfe befürworten, sind der tägliche Konsum von Cannabis oder die Verhinderung der aktiven Sterbehilfe entscheidend für das Lebensglück.

Durchatmen und genauer hinschauen lohnt sich: Vielleicht passt die Landwirtschaftspolitik der Grünen doch besser zu den langfristigen Zielen eines Bauern, der sonst CDU/CSU wählt. Zumindest hat man die Argumente der Gegenseite besser kennengelernt. Dann klappt es vielleicht auch besser mit dem Nachbarn.

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