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Symbol für Pluralität. Kinderumzug beim Karneval der Kulturen in Berlin-Kreuzberg.

© Thilo Rückeis

Anerkennung oder Abgrenzung: Wie will Deutschland mit seiner Pluralität umgehen?

Das Selbstverständnis Deutschlands steht und fällt damit, welche Parameter der Zugehörigkeit sich durchsetzen. Eine Kolumne.

Für den Wiederaufbau Deutschlands kamen ab 1955 Arbeiter aus Italien, ab 1961 aus der Türkei, später aus weiteren Ländern. Sie stellten zu einem erheblichen Anteil den Kader des Aufbaus von Straßen und Häusern und andere Bereiche der Wirtschaft in der Bundesrepublik. Ähnlich steht es im Osten um die vietnamesischen Arbeiter.

Seit den 90er Jahren befinden wir uns in einer zweiten Phase des Wiederaufbaus, die sich nicht mehr auf Häuser und Straßen konzentriert, sondern auf Identität. Waren es beim Bau der Straßen Migranten, so sind es beim Aufbau eines erneuerten Selbstverständnisses von Deutschland ihre Nachfahren, die hierbei alle Hände voll zu tun haben. Denn in gewisser Weise haben wir es bei diesem Wiederaufbau der Identität, dem zweiten Wiederaufbau also, auch mit einer zweiten Welle der „Gastarbeit“ zu tun: So wie der Aufbau der Häuser und Straßen zum Teil (im wahrsten Sinne) auf dem Rücken der Migranten geschah, ist es spätestens seit den 90ern der Rücken ihrer Nachfahren, auf dem der Konflikt deutscher Identität ausgetragen wird. In teilweise völliger Verdrängung der Realität dieses Landes, dass nämlich die „Gäste“ schon längst Mitbürger sind. Die Debatten um Leitkultur, Integration und Heimat haben in Wirklichkeit meistens nichts oder nur wenig mit den Migranten und deren Nachfahren zu tun. Diese dienen als Projektionsfläche auf der Suche nach eigener Identität.

Wenn sich Deutschland selbst im Weg steht

Es ist angenehmer, mich durch Abgrenzung gegenüber einem „Anderen“ zu definieren, als zu werden, was ich bin – aus mir selbst heraus. Letzteres erfordert einen schmerzhaften Blick auf die eigene Unvollkommenheit, eine Auseinandersetzung mit den eigenen Taten in Vergangenheit und Gegenwart. Auch lässt sich das Selbstverständnis Deutschlands nicht nur aus einer Gruppe definieren, zumindest nicht in einer Demokratie, sondern nur aus allen Teilen der Gesellschaft, einschließlich der Migranten und ihrer Nachfahren. Das ist aber nur möglich, wenn diese nicht mehr als Projektionsflächen benutzt werden. So lange steht sich Deutschland selbst im Weg. Das Selbstverständnis Deutschlands im 21. Jahrhundert scheint damit zu stehen oder zu fallen, welche Parameter der Zugehörigkeit sich durchsetzen. Suchen wir Zugehörigkeit in Physiognomie, Namen, in der Herkunft der Urgroßeltern oder in unserer (polyphonen) Art zu leben, unabhängig von Hautfarbe, Phonetik der Namen und Religion?

Vorbild für den Westen?

Diesem Thema hat der „Economist“ vergangene Woche seinen „Special Report“ gewidmet und dafür den Titel „Cool Germany“ gefunden. Entweder schaffe Deutschland den Sprung in eine Demokratie des 21. Jahrhunderts, in der kulturelle und ethnische Vielfalt nicht nur möglich, sondern identitätsstiftend ist – oder es falle zurück in ein ethnisch und kulturell monolithisches Selbstverständnis. Im ersten Fall könne Deutschland, nach dem Verlust US-amerikanischer Integrität, ein Vorbild für den Westen sein. Aber eigentlich sollte es weniger um die vom „Economist“ vorgestellte Aussicht gehen, ein bedeutender Akteur für den Westen sein zu können. Vielmehr geht es darum, das, was schon längst Realität ist und bis auf eine kurze Phase immer schon Realität war in diesem Land, nämlich die ethnische und kulturelle Pluralität, anzuerkennen. Erst dann kann die Frage gestellt werden: Wie gehen wir damit um? Durch Negation und Zuflucht in antidemokratische, autoritäre Strukturen, um ja keine Auseinandersetzung mit uns selbst zu wagen? Oder besser durch gemeinsame Arbeit, nicht für ein cooles, sondern ein ehrliches Selbstverständnis.

Deniz Utlu

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