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Vor allem Gegner der Corona-Maßnahmen hatten immer wieder von einer "Corona-Demokratie" gesprochen.

© dpa/Robert Michael

„Wir müssen einen Trend aufhalten“: Stellt ein Drittel der Deutschen die demokratische Grundordnung in Frage?

Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach wähnen sich 31 Prozent der Deutschen in einer Scheindemokratie Was steckt dahinter?

Stellt ein Drittel der Deutschen das politische System in Deutschland in Frage? Das ist das vermeintlich schockierende Ergebnis einer Umfrage, die das Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag des Südwestdeutschen Rundfunks durchgeführt hat

Als Scheindemokratie werden Regierungsformen bezeichnet, die sich den Anschein einer Demokratie geben, bei denen tatsächlich aber Elemente der Diktatur überwiegen und die Bevölkerung mit ihrer Stimme bei Wahlen keinen wirklichen Einfluss nehmen kann.

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31 Prozent der Teilnehmer äußerten in der repräsentativen Befragung die Annahme, nur scheinbar in einer Demokratie zu leben, sondern in einer Staatsform, „in der die Bürger nichts zu sagen haben“.

28 Prozent der Westdeutschen seien dieser Ansicht, in Ostdeutschland sogar 45 Prozent. 28 Prozent der Deutschen finden laut der Umfrage, dass das demokratische System in Deutschland „grundlegend geändert“ gehöre. Ein Grund zur Sorge? Ja, meint Elitenforscher Michael Hartmann. „Wir sollten die Zahlen nicht relativieren. Die Stimmung am unteren Rand der Gesellschaft sei geladen, sagt er. Eine „Die da oben“-Mentalität werde immer ausgeprägter.

Ein Grund dafür sei auch das Verhalten der Eliten. „Die Villa von Herrn Spahn, der vierwöchige Urlaub von Frau Spiegel und ihr Übergangsgeld. Wenn Leute wie Joachim Gauck oder Frank-Walter Steinmeier sagen, wir müssten jetzt alle den Gürtel enger schnallen, dann fühlen sich viele Menschen auf den Arm genommen.

Das mag Menschen möglich sein, die 200.000 Euro im Jahr verdienen, aber viele Menschen in unserer Gesellschaft leben bereits am Limit. Wer alleinerziehend ist und in der Pflege arbeitet, dem fällt dazu nichts ein.“

„Inzwischen ist fast jeder im Bundestag Akademiker“

Hartmann  kritisiert die veränderte Besetzung des deutschen Bundestags. „Inzwischen ist fast jeder dort Akademiker, damit kann sich ein Gros der Gesellschaft nicht identifizieren und fühlt sich nicht repräsentiert.“ Angehörige der Elite hätten in den vergangenen Jahren deutlich an Gehalt zugelegt, während es gerade in der unteren Schicht sehr stagniere. „In gewisser Weise haben sie ja Recht: Die Frage `Machen die da oben was für uns` lässt sich in vielen Fällen mit nein beantworten. Im Kern wird zumindest in den vergangenen zwanzig Jahren immer zugunsten der Besserverdienenden entschieden.“

Die Bafög-Reform reiche vermutlich nicht mal aus, um die Inflationsrate auszugleichen, die Hartz-IV-Erhöhung mache nicht einmal das möglich. Ein konkretes Beispiel dafür, dass Menschen das Gefühl hätten, nicht mitbestimmen zu können sei der Volksentscheid „Deutsche Wohnen Enteignen“. „An diesem Volksentscheid haben so viele Berliner teilgenommen, nun wird er verschleppt und beerdigt und endet wie beim Hornberger Schießen“

Thomas Petersen vom Allensbach Institut hat die Umfrage geleitet. Er zeichnet ein differenzierteres Bild als Hartmann und gibt im Gespräch mit dem Tagesspiegel Entwarnung. Aus der Untersuchung sei nur eine einzige Zahl herausgenommen worden, erklärt er. Das Wort Scheindemokratie selbst sei in dieser nicht einmal aufgetaucht.

Projektleiter der Umfrage gibt Entwarnung

„Wir leben nur scheinbar in einer Demokratie, tatsächlich haben die Bürger nichts zu sagen“, war eine der Antwortmöglichkeiten, die die Teilnehmer auf eine Frage wählen konnten. 31 Prozent entschieden sich dafür. „Aber nicht jeder, der das sagt ist auch ein Antidemokrat.“ Die Entwicklung sei trotz der Corona-Pandemie sogar eher positiv: Vor vier Jahren hatten noch 36 Prozent diese Möglichkeit gewählt.

Auch Mitte der 2000er-Jahre sei die Politikverdrossenheit deutlich größer gewesen, ebenso wie die Ablehnung einer Demokratie. „Anlass der Umfrage war eigentlich zu prüfen, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen Rechtsradikalismus und der Neigung zu Verschwörungstheorien. Das können wir klar bejahen.“

Auch Demokratie-Experte Robert Vehrkamp von der Bertelsmann-Stiftung gibt sich gelassen. „Bei genauerem Hinschauen verlieren die Zahlen ihren Schrecken - aber eben auch die schmissige Headline.”

Nur eine einstellige Prozentzahl befürworte tatsächlich autokratische Strukturen. „Unser politisches System als scheindemokratisch zu kritisieren kann viele Gründe haben, zum Beispiel auch den Wunsch nach mehr Demokratie und Bürgerbeteiligung, also nach einer anderen und besseren Demokratie.“

Das allein mache niemanden zu einem Feind der Demokratie. „Eine zu simple Interpretation der Zahlen halte ich für nicht zulässig, sie erzeugt ein schiefes Bild.“

Vehrkamp geht sogar noch weiter: „Die Demokratie lebt von Kritik und Unzufriedenheit, solange das nicht durchschlägt auf die Akzeptanz demokratischer Werte und der Demokratie als Ganzes, ist sie positiv zu sehen.“ Sorgen müsse man sich eher bei 90 oder 100 Prozent Zustimmung machen. „Meinungspluralität ist wichtig, die Qualität einer Demokratie artikuliert sich auch in der Kritik an ihr.“

Seit der Corona-Pandemie hätte sich die Zustimmung zu den Werten und zum System der Demokratie nicht verschlechtert. „Ich will die Zahlen nicht schönreden, aber die Präsenz von Coronaleugnern in den Medien erscheint oft größer als ihr tatsächlicher Anteil an der Bevölkerung.

Es gibt sie, aber sie repräsentieren weder die Mehrheit noch die Mitte der Gesellschaft.“ Zu Beginn der Pandemie sei das Vertrauen in die Regierung sogar gestiegen. „Dieser Vertrauensvorschuss ist inzwischen aber wieder verbraucht, auch durch politische Fehler im Krisenmanagement.“

Deutscher Journalistenverband reagiert beunruhigt

Der Deutsche Journalistenverband reagierte beunruhigt auf die Veröffentlichung der Umfrageergebnisse und befürchtet Auswirkungen auf die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten. Wer der Meinung sei, lediglich in einer „Scheindemokratie“ zu leben, halte „auch das Grundrecht der Pressefreiheit für verzichtbaren Luxus“, sagte DJV-Bundeschef Frank Überall.

Die Politikerinnen und Politiker müssten Menschen Entscheidungsprozesse besser erklären. Dem widerspricht der Elitenforscher Michael Hartmann. Erklären reiche nicht aus. „Erklären hilft nur dann, wenn es eine reale Grundlage gibt: Die Menschen reagieren auf reale Erfahrungen.“

Es gelte nun, Signale zu setzen, etwa stärkere Belastungen der Besserverdienenden in der aktuellen Situation. „Wir müssen einen Trend aufhalten. Viele Menschen sind sehr enttäuscht von der Politik. Je länger so eine Enttäuschung anhält, desto mehr verfestigt sie sich. Die Menschen resignieren und gehen nicht mehr zu Wahlen. Die sind dann für die normale politische Willensbildung verloren, die kriegt man nicht zurück.“

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