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Karin Felix hat die rund 700 Zeichen an den Wänden des Reichtstagsgebäudes dokumentiert.

© Mike Wolfff

Erinnerungen an russische Soldaten im Reichstagsgebäude: Zeichen an der Wand

Als sie 1945 den Reichstag stürmten, haben russische Soldaten sich mit ihren Signaturen an den Wänden verewigt. Wer waren diese Männer?

Wenn die Bundeszentrale für Politische Bildung, das Auswärtige Amt, der Deutsche Bundestag oder wer auch immer der üblichen Verdächtigen für die Darstellung Deutschlands in der Welt, wenn einer von ihnen den Mut und auch das Budget zur Unterstützung eines außergewöhnlichen Buchprojektes gehabt hätte, dann, ja, dann hätte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seinem Arbeitstreffen mit dem russischen Präsidenten an diesem Mittwoch in Moskau Wladimir Putin ein besonderes Gastgeschenk überreichen können. Eine Gabe, die diesen vermutlich zu echten Tränen gerührt und den schwierigen deutsch-russischen Beziehungen einen überraschenden Schub der Re-Vitalisierung gegeben hätte.

Die Rede ist von einem großformatigen Buch, um die 200 farbige Seiten stark, dessen Autorin die Geschichten hinter etwa 700 Abbildungen von Signaturen russischer Soldaten auf den Wänden des Reichstagsgebäudes erzählt. Wer waren die Männer, die zwischen Mai 1945 und 1950, oft voller Angst, in dem von ihnen gestürmten Reichstag ihre Namen an die Wände schrieben? Die damit zeigen wollten: Wir waren dabei, als die Rote Armee Hitler besiegt hat?

Anrührende Begegnungen mit sehr alten Männern

Aber da das Geld nicht zusammenkam, nicht einmal ein Verlag sich bislang bereitfand, diese ganz ungewöhnliche und einzigartige Dokumentation zu verlegen, kann Karin Felix nur von ihrer jahrelangen Arbeit berichten, erklären, Geschichten von anrührenden Begegnungen mit sehr alten Männern erzählen und weiter hoffen, dass dieses Dokument der Zeitgeschichte irgendwann als Buch herauskommen wird.

Karin Felix ist eine genauso warmherzige wie durchsetzungsfähige Frau. Geboren 1949 in Magdeburg, ab der neunten Klasse in einer Russisch-Schule, früh verheiratet, Mutter zweier längst erwachsener Kinder und für den Außenhandel der DDR tätig, wobei ihr nicht zuletzt gute Russischkenntnisse zustatten kamen. Dann, 123 Tage vor der Wende, sie hat es sich genau gemerkt, fand sich eine Anstellung im Informationsdienst der Volkskammer – einen Schummelposten nennt sie es heute schmunzelnd, denn mit viel Stress war er nicht verbunden. Aber er ebnete ihr, was sich im Nachhinein als überaus glückliche Fügung herausstellte, 1990 den Weg zu einer erfolgreichen Bewerbung für den Besucherdienst des Bundestages im Reichstag. So wurde sie bis zu ihrer Pensionierung 2014 eine jener Multiplikator(inn)en, die Besucher durch das Haus führen und nicht nur dessen Architektur, sondern dazu auch den Bauplan der deutschen parlamentarischen Demokratie erklären. Dass bei jemand, der fließend Russisch spricht, schnell auch Besuchergruppen und Einzelreisende aus dem Gebiet der Russischen Föderation, der früheren Sowjetunion, landeten, spricht für die gute Organisation des Hauses.

Karin Felix faszinierten die Signaturen an den Wänden, mit Holzkohle oder Kreide vor Jahrzehnten an die Wände geschrieben. Was waren das für Menschen? Wie hatten sie sich gefühlt am Ende eines furchtbaren Krieges, im Bewusstsein, das Nazireich geschlagen zu haben, dessen Armeen und Vollstreckern rassistischen Größenwahns Millionen von Russen zum Opfer gefallen waren?

Ihre erste Begegnung hatte sie im Oktober 2001

Es war der 11. Oktober 2001, als sie das erste Mal auf einem Gang im Reichstagsgebäude einem der Männer begegnete: Boris Viktorowitsch Sapunov ist sein Name. Wie es dazu kam, schildert Karin Felix später so: „Auf dem Weg zur nächsten Führung lief mir ein Kollege der Bundespolizei über den Weg... Er wusste, dass ich die Namen lesen konnte, und fragte mich, ob ich schon einmal den Namen Sapunov gesehen hätte... Nein, hatte ich nicht... Ich schickte die kleine Gruppe zu der Stelle, wo sich die meisten Namen befanden... der alte Herr begann sofort, seinen Schriftzug aus dem Mai 1945 zu suchen... Ich holte unterdessen Informationsmaterial in russischer Sprache aus meinem Büro... Zurückgekehrt sah ich, wie zwei seiner Begleiter gerade im Bild festhielten, wie der Veteran auf einen kleinen Schriftzug in 1,50 Meter Höhe zeigte.“

Sapunov war zu diesem Zeitpunkt 79 Jahre alt und wirkte nachdenklich und verlegen zugleich, erinnert sich Karin Felix. Er hat später viel über diese Tage im Mai 1945 und den Krieg gesprochen. Sapunov war Professor für Geschichte an der Eremitage in St. Petersburg. Als er bei einem Besuch im Reichstag gefragt wird, was er in dem Moment empfunden habe, in dem er seinen Namen an die Wand schrieb, sagte er: „Stolz waren wir damals nicht. Besoffen waren wir. Angst hatten wir, zum Schluss noch erschossen zu werden.“

Damals waren sie alle blutjung

Der zweite frühere sowjetische Soldat, der seinen Namen fand, war Boris Leonowitsch Zolotarevsky, Jahrgang 1925. Es war der 2. April 2004, als er mit Karin Felix auf der Plenarsaalebene im Nordflügel an der Nordwand seinen Schriftzug entdeckte. Es sind zum Teil herzbewegende Erinnerungen, die Karin Felix bis auf den heutigen Tag beschäftigen – es waren ja alles blutjunge Menschen, die damals in der Uniform der Sowjetarmee jenes Gebäude Stockwerk für Stockwerk eroberten, das sie für so etwas wie die Machtzentrale der besiegten faschistischen Diktatur hielten. Karin Felix lernte während ihrer Tätigkeit auch einen jener fünf Männer kennen, die als Erste auf das Dach des Reichstages gestiegen waren und dort die Rote Fahne hissten. Michail Petrowitsch Minin ist sein Name. Es war der 18. Dezember 2004, als Karin Felix ihn durch das Haus führte.

Dass nach all den vielen Umbauten des Reichstagsgebäudes, nach den geschmacklichen Verirrungen des jeweils die Hand der Architekten führenden Zeitgeistes 700 Originalsignaturen erhalten geblieben sind, grenzt an ein Wunder. Nach dem von russischen Panzern niedergeworfenen Volksaufstand in der DDR im Juni 1953, nach dem Berlin-Ultimatum Nikita Chruschtschows 1958 und dem Mauerbau 1961 gab es in West-Berlin so viel nachvollziehbare anti-sowjetische Ressentiments, dass es naheliegend gewesen wäre, bei allfälligen Renovierungsarbeiten die ganzen kyrillischen Buchstabengirlanden einfach zu übertünchen. Es kam aber anders. Das hing mit einem Architekten-Wettbewerb für die Wiederherstellung des Reichstagsgebäudes zusammen, den der Bundestag Mitte der 50er-Jahre auslobte. Der Auftrag lautete, das stark zerstörte Gebäude „für parlamentarische Zwecke“ wieder herzurichten. Ein neuer Plenarsaal war ausdrücklich nicht vorgesehen.

Architekt Norman Foster weigerte sich, die Zeichen zu tilgen

Den Wettbewerb gewann Paul Baumgarten, der 1961 mit den Bauarbeiten begann. Der zum Zeitpunkt der Ausschreibung 60 Jahre alte Baumeister war ein Anhänger der nüchternen Moderne. Er liebte die klare Formsprache jener Zeit. Die Reste der Kuppel waren, weil einsturzgefährdet, bereits 1954 abgesprengt worden. Baumgarten ließ alles abreißen, was ihn wilhelminisch dünkte, verzichtete auf eine neue Kuppel, und um die massive Wirkung des Wallotschen Baues zu schrumpfen, ließ er auch bei den vier Ecktürmen jeweils eine Etage abreißen. (Einen Plenarsaal allerdings plante er trotzdem ein – es war dieser Saal, in dem der Bundestag des vereinten Deutschland 1999 erstmals tagte.)

Alle Innenwände wurden mit Paneelen und Gipsfaserplatten, abgedeckt. Dahinter verschwanden nicht nur die Einschussspuren, die vom Kampf um den Reichstag kündeten, sondern auch die vielen hundert Namen der sowjetischen Soldaten, die sich dort in den ersten Maitagen 1945 verewigt hatten. Sie tauchten erst wieder auf, als Jahre nach der Wiedervereinigung der von Sir Norman Foster entworfene Umbau des Reichstages im September 1999 begann. Zwar gab es eine Initiative einiger Bundestagsabgeordneter, diese Inschriften bis auf einige wenige zu entfernen. Aber der britische Architekt widersetzte sich diesem Akt der Erinnerungstilgung – dies seien „Zeichen der Geschichte“, sagte er, und fand damit auch Unterstützung in der Baukommission des Bundestages und im Präsidium des Parlamentes. Foster nannte im übrigen Paul Baumgartens Entscheidung, die Stuckaturen des Gebäudes herausreißen zu lassen, einen „Akt bürgerlichen Vandalismus’“.

Heute gehören die Inschriften für Besuchergruppen, aber auch für erstmals den Reichstag betretende neue Abgeordnete, zu den eindrücklichsten Zeugen der Vergangenheit. Karin Felix erklärt dann mit einem Lächeln, dass die vielen Löcher links und rechts der Signaturen nicht etwa von Einschüssen aus dem Jahr 1945 stammen, sondern Bohrlöcher sind, in denen die Faserplatten verankert waren, die die Wände jahrzehntelang schützen sollten.

Karin Felix macht Schicksale wieder sichtbar

Dreißig Geschichten hat Karin Felix aufgeschrieben. Hinter vielen werden Schicksale von Familien sichtbar, etwa bei dem Soldaten, der 1945 in Berlin verbotenerweise eine Deutsche heiratete, mit ihr einen Sohn hatte und von der sowjetischen Führung, als die von der Verbindung erfuhr, am nächsten Tag nach Russland zurückgeschickt wurde. Jahrzehnte gab es keinen Kontakt mehr, der einstige Soldat war gestorben, aber Karin Felix stellte die Verbindung zwischen dem Sohn und der russischen Familie her.

Oft waren und sind es bis auf den heutigen Tag Nachfahren der Soldaten, die jene Inschriften suchen, von deren Existenz sie aus Erzählungen wussten. Karin Felix, obwohl seit drei Jahren pensioniert, wird sowohl von der russischen Botschaft als auch von der Bundestagsverwaltung bis heute konsultiert, wenn sich Veteranen oder ihre Nachfahren melden. Ist das Buch – „Die Graffiti im Reichstagsgebäude“ soll es heißen – ihre Lebensaufgabe? Nein, das ist das Buch wohl nicht. Aber dadurch die Erinnerung an den Schrecken von einst wachzuhalten, für die Versöhnung der Völker zu werben, das ist ihr wichtig. Und die Zeichen an der Wand sind ja alle noch da, bis auf einige wenige Ausnahmen, die auf Bitten der russischen Botschaft verschwanden, weil sie einfach ordinär waren. Ansonsten wurde an diesen Dokumenten der Zeitgeschichte nichts verändert.

Wenn am Dienstag, dem Tag der ersten Sitzung des neu gewählten Bundestages, die Abgeordneten durch die Gänge gehen, können sie sich als Lernhilfe über die Geschichte eines Flyers der Bundestagsverwaltung bedienen, der über die kyrillischen Inschriften informiert. Einen Satz freilich werden sie dort nicht dokumentiert finden. Er steht an der Wand neben der Tür zum Büro der Bundeskanzlerin, Angela Merkel, auf der Fraktionsetage von CDU und CSU. Der – russische – Satz lautet: „Was du säst, wirst du ernten.“

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