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© dpa

Schule: Zu Besuch bei den „Lehrern des Jahres“

Schule ist ein düsteres Thema derzeit, steht für Missbrauch, Prügel und Übergriffe von Erwachsenen. Darum ist es gut, mit denen zu sprechen, die sich auskennen mit Nähe und Distanz im Klassenzimmer.

Schulen sind Schulen, da macht das Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasium keine Ausnahme. Ein geduckter Bau, lang gestreckt, ein bisschen außerhalb des Zentrums von Frankfurt (Oder), einstöckige, rechtwinklige Funktionalität. Dunkle Flure, die kein Ende haben und kein Erbarmen, links eine Tür und rechts eine Tür, rechts eine Tür und links eine Tür, dunkelroter PVC-Fußboden.

Dann geht eine dieser Türen auf, und aus den hohen Fenstern stürzt ein Licht herein, eine Wärme, und man weiß gar nicht, ob das jetzt das Wunder des ersten Frühlingstags ist oder einfach die Freundlichkeit dieses Herrn, der gerade die Tür aufgemacht hat. Ole Müller, 46-jährig, Jeans, schwarzes Polohemd, promoviert mit einer Arbeit über die Flusslibelle, sagt: „Der Biologiesaal ist mein Reich“, er sagt immer „Biologie“, nicht etwa „Bio“, das überlässt er den Schülern. Dann setzt er sich in seinem Reich auf einen Stuhl, gleich unterhalb eines Schaubilds, das einen aufgeschnittenen Menschen zeigt.

Vielleicht hat diese Helligkeit und Heiterkeit aber auch mit etwas anderem zu tun. Damit, dass das Thema Schule in den vergangenen Wochen ein ganz und gar düsteres Thema geworden ist. Missbrauch, kein Tag ohne neue Nachrichten, Gewalt gegen Kinder, Schule als Tatort, Lehrer, die aus ihrer Nähe zu Schülern eine übergriffige Nähe machten und aus ihrer Macht eine Bemächtigung. Vielleicht war es deshalb gut, hierher ans Gauß-Gymnasium zu kommen und mit einem zu sprechen, der etwas weiß von dieser Lehrer-Schüler-Nähe. Der Biologe Ole Müller hat nämlich einen Preis bekommen, vergangenes Jahr, „Lehrer des Jahres 2009“. Und vielleicht ist hier in der pädagogischen Provinz ein Gegenentwurf zu finden zu alldem Schrecken. Und Auskunft über das Verhältnis von Nähe und Distanz in diesen besonderen Verhältnissen, die Schule macht.

Natürlich entsteht Nähe, sagt der Lehrer Müller, natürlich entsteht ein besonderes Verhältnis, gerade hier an seinem Gymnasium, wenn sie Projektarbeiten machen, die sich ein, zwei Jahre hinziehen. Aus Arbeitsbeziehungen werden Gefühlsbeziehungen, und natürlich sind solche emotionalen Verhältnisse eine Grundfeste des pädagogischen Prozesses, schon ein einfaches Lehrerlob schafft ja Nähe. Und dann sagt er ein Wort, das er nun immer wieder sagen wird: Respekt. Niemals darf der Schüler das Gefühl haben, er werde autoritär verwaltet, „ich hasse Situationen, in denen ich die Peitsche schwingen muss“. Und gleich fällt das zweite Zentralwort aus dem Grundwortschatz des Lehrers Müller: Partner. Auf Augenhöhe mit den Schülern zu sein, das macht den guten Lehrer aus, sich nicht über sie zu erheben, und dann ist er auch schon beim dritten Zentralwort, es heißt „gemeinsam“. Weil man schließlich ein gemeinsames Ziel hat, eine gemeinsame Arbeit macht und weil das hier auf den langen Fluren und hinter den ungezählten Türen ja sogar ein gemeinsames Leben ist. Jedenfalls ein Stück davon. Der gute Lehrer ist heute doch kein Meister mehr, sondern ein Moderator.

Aber, Lehrer Müller, ist das mit der Partnerschaft und der Augenhöhe nicht eine wohlmeinende Augenwischerei? Steckt hinter diesem gleichgemachten Lehrer-Schüler-Verhältnis nicht eine faustdicke Lüge? Weil dieses Verhältnis in Wirklichkeit doch ein Muster an Ungleichheit ist: Macht, Autorität, Zensurenhoheit - alles auf der Seite des Lehrers. Erfahrung, Wissen, Alter – schon wieder 3:0 für den Lehrer. Eine ganz und gar asymmetrische Beziehung. Was heißt hier gleiche Höhe?

Da schaut Ole Müller durch seine kantige Brille so amüsiert, als wollte er sagen: Für wie dumm halten Sie die Schüler eigentlich? Aber das sagt er nicht, weil er ein höflicher Mensch ist. Das System, sagt er stattdessen, kennen die Schüler doch, in das sind beide eingespannt, die Lehrer und die Schüler. Dass ich die Noten gebe, ist jedem klar, und dass ich der Chef bleibe, auch. Aber: „Wir arbeiten innerhalb dieses Systems an einem gemeinsamen Ziel. So funktioniert das.“

Und er sagt, vor dem Bildnis des aufgeschnittenen Menschenleibs, dass es eben auf Transparenz ankomme, dass jeder wissen müsse, wo er steht und wer er ist und was seine Rolle bedeutet. Bei dem Wort „Rolle“ zögert er dann ein wenig, und über das Gesicht von Müller geht ein kleines Lächeln, als hätte er eines der vom Aussterben bedrohten Exemplare der Flusslibelle entdeckt, und dann sagt er: „Aber natürlich sind wir Lehrer auch immer ein bisschen Schauspieler.“

Ein paar hundert Kilometer weiter westlich regt sich Widerspruch. Christine Herde-Hitziger sitzt am Esstisch in ihrem Haus in Pinneberg bei Hamburg und ist anderer Ansicht. Und hält ein Plädoyer für rückhaltlose Klarheit. Lehrer dürften gerade keine Schauspieler sein, „das ist gefährlich bei jungen Menschen. Schüler müssen wissen, woran sie sind.“

Auch sie hegt und pflegt nämlich so einige pädagogische Zentralwörter, und eines davon heißt Aufrichtigkeit. Das steht auch ganz oben in der Begründung, die eine ihrer Abiturklassen geschrieben hat, als sie Christine Herde-Hitziger für den Deutschen Lehrerpreis vorgeschlagen hat. Auch sie hat ihn im Jahr 2009 bekommen, wie der Kollege Müller und einige andere. Es war ihr letztes Schuljahr, jetzt ist sie pensioniert und dennoch unentwegt tätig, zum Beispiel als Coach für andere Lehrkräfte. Weil sie deren Nöte kennt und besonders die Hauptnot: die Einsamkeit. Alles, was sie damals, zu Beginn ihrer Berufslaufbahn als Lehrerin für Deutsch, Politik und Geschichte, mit dem revolutionären Elan der frühen 70er Jahre auf den Weg gebracht hätten, sei heute dahin: die Solidarität, die Lust der Kollegen, gemeinsame Sache zu machen, sich gegenseitig im Unterricht zu besuchen, zu beurteilen, zu beraten. Jetzt sei jeder ein Einzelkämpfer – und schuld daran sei das deutsche System der Halbtagsschule. Und sie spricht „Halbtagsschule“ so aus, als würde sie am liebsten das Wort „verflucht“ dazusetzen. Keine Zeit für den Austausch unter den Lehrern, keine ernsthaften Gespräche, keine Kultur des Zusammenlebens. Deshalb ist sie schließlich auch vom Gymnasium an die Gesamtschule gegangen.

Natürlich flucht Christine Herde-Hitziger nicht, sie ist eine Dame. Beige Wildlederhose, hellbeige Strickjacke, Ton in Ton, modische Brille mit rotem Rand. Ohnehin schützt das Pensionsalter in ihrem Fall keineswegs vor Modernität. Sie ist vernetzt, kommuniziert über Facebook, aber im Wohnzimmer steht noch ein Gestell mit Flipchart-Bögen, überall liegen große Papiere ausgebreitet, mit Grafiken, Schaubildern. Früher hat man so etwas als Lehrer an die Tafel gemalt. Gelernt ist gelernt.

Und natürlich fällt es einer wie ihr nicht im Geringsten schwer, jenes pädagogische Hauptwort ganz ungeniert auszusprechen, das in diesen Wochen so viel Empörung und so viele Missverständnisse hervorgerufen hat: Liebe im Lehrer-Schüler-Verhältnis. Natürlich Liebe! Was denn sonst? Weil Bildung ja nicht nur die Bildung der Gehirne ist, sondern der Herzen auch, des ganzen Menschen also. Weil Pädagogik emotional berühren muss. Weil Gefühlsbindungen auf diese Weise ganz von allein entstehen.

Nein, hat der Lehrer Müller im östlicheren Deutschland gesagt, „ich habe an der Schule ein Übermaß an Gefühlen noch nie erlebt, bin niemals in ein solches Spannungsverhältnis geraten“. Vielleicht spricht die Nüchternheit des Naturwissenschaftlers aus ihm.

Die Lehrerin Herde-Hitziger hingegen spricht von einem schmalen Grat. Er führt über Abgründe. In denen emotionale Abhängigkeit und Ausbeutung lauern. „Wer sich auf andere Menschen einlässt“, sagt sie, „geht immer ein Gefühlsrisiko ein – auch darin zeigt sich die Professionalität von Lehrern, dass sie den eigenen Gefühlshaushalt kennen und sich seiner Gefahren bewusst sind.“

Und weil Aufrichtigkeit eben zu ihren Zentralwörtern gehört, ist sie mit dem Thema so schnell noch nicht fertig: „Wir sollten nicht die Augen davor verschließen, dass im Raum Schule, wenn er denn die Möglichkeit zu Nähe und Vertrauen eröffnet, auch leidenschaftliche Gefühle geweckt werden können.“ Gerade deshalb sei es eine fundamentale Aufgabe der Pädagogik, mit dem Schatz von Gefühlen und Trieben sorgfältig umzugehen. Wirkliche Intimität aber, sagt sie, kann es an der Schule gar nicht geben; denn die setzt freie, gleichberechtigte Subjekte voraus. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis aber ist immer ein Verhältnis von Abhängigkeit.

Wer aber hilft den Lehrern in diesem Labyrinth von Beziehungen, Rollen, Nähe und Distanz? Da wird Christine Herde-Hitziger ein wenig ärgerlich. Weil eben niemand hilft. So gegenwärtig das Problem der Übergriffe auch im Lehreralltag ist, so sehr wird es totgeschwiegen, tabuisiert. Und das umso mehr, wenn es - wie zurzeit - von außen herangetragen wird und die Schule plötzlich unter Generalverdacht steht. „Lehrer“, sagt die Lehrerin Herde-Hitziger, „sind eine sehr kränkbare Klientel.“

Aber es hilft ihnen ja in der Tat niemand dabei, diesen Gratgang ohne Absturzgefahr zu bewältigen. In der Lehrerausbildung ist das Thema so gut wie kein Thema. Gefühle werden abgeschoben in die Privatsphäre und sind doch in diesem Beruf ein Mittelpunkt wie in wenig anderen. Die Gegenstände aller pädagogischen Bemühungen sind schließlich Menschen.

Womöglich ließe sich in der Lehrerausbildung ja noch ein Zweites lernen: dass Missbrauch nicht nur der Horror des sexuellen Missbrauchs ist, sondern immer da droht, wo Machtverhältnisse bestehen. Und dass Machtmissbrauch auch heute noch tausendfache, tägliche und niemals sanktionierte Wirklichkeit an den Schulen ist. Lehrer Müller aus Frankfurt weiß das genau und hat daraus seine Konsequenzen gezogen. „Mein oberstes Ziel ist: Die Schüler dürfen keine Angst vor mir haben.“ Und die Kollegin aus Pinneberg ist ganz seiner Ansicht. „Niemals Schüler beschämen“, heißt einer ihrer erzieherischen Grundsätze, niemals lächerlich machen, auch nicht bei Fehlern.

Wer so etwas kann, vielleicht wäre der ein idealer Lehrer.

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